Von Begeisterung ist nichts überliefert. Die Uraufführung von Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion in der Leipziger Nikolaikirche scheint mit Gleichmut, ja als Selbstverständlichkeit aufgenommen worden zu sein. Es handelte sich eben um kirchliche Gebrauchsmusik im Rahmen der Karfreitags-Liturgie.
Und doch ereignete sich an jenem 7. April 1724 in Leipzig Großes. Nicht nur wurde die Leidensgeschichte Christi in einem fast zwei Stunden beanspruchenden Werk von überragender Qualität dargeboten. Die sattsam bekannte Handlung war vielmehr in eine musikdramatische Fassung gebracht worden, die das Geschehen zwischen dem Garten Gethsemane und der Kreuzigungsstätte Golgotha in die Nähe einer Oper mit frommem Inhalt rückt. Die Voraussetzungen dafür waren gegeben: Leiden und Sterben Jesu spielen sich im Evangelium in fünf Akten ab: Gefangennahme und Verleugnung, Verhör und Geißelung, Verurteilung und Kreuzigung, Tod, Grablegung. In einer sich stetig verdichtenden Handlung ragen menschliche Tragik und göttliche Größe als Antipoden heraus.
Bachs Sinn für die bühnenreife Wirkung von Kirchenmusik brachte ihm zuweilen Scherereien ein: Mehr als einmal mahnte ihn sein Dienstherr, der Leipziger Rat, von allzu viel „Theatralik“ die Finger zu lassen. Dieses Diktum traf einen Komponisten, der nach eigener Darstellung mit seinem Amtsantritt als Leipziger Thomaskantor im Jahr 1723 „vom Kapellmeister (in Köthen) zum Kantor“ abgestiegen war.
Bach griff freilich ein längst vorhandenes Modell auf: die oratorische Figuralpassion. Darin ist die Wiedergabe des Bibeltexts mit verteilten Rollen unterbrochen von Chorälen und lyrischen Stücken in freier Dichtung. Auch die Einbeziehung von Instrumenten und Rezitative im italienisch geprägten Opernstil gehören zu dieser Großform.
Bachs Textvorlage war neben dem Johannes-Evangelium und Kirchenliedstrophen die Nachdichtung poetischer Passionstexte, vorwiegend verfasst vom Hamburger Ratsherrn Barthold Heinrich Brockes. An zwei Stellen schien es dem Komponisten passend, kurze Abschnitte aus dem Matthäus-Evangelium einzufügen – eine Gelegenheit, die souveräne Beherrschung musikalischer Affekte vorzuführen. Petrus’ bei Johannes nicht erwähnte Erschütterung nach dem eigenen Verrat an Jesus (Nr. 12c) ist in ein schier unglaubliches Melisma (eine Silbe, viele Töne) gefasst, durchsetzt mit verminderten Quinten und verquerer Harmonik: ein getreues Abbild der Zerknirschung, die in der folgenden Tenor-Arie aufgegriffen wird. Den Riss des Tempelvorhangs wiederum und das noch im anschließenden Arioso nachzitternde Beben nach dem Tod des Heilands (Nr. 33) malt Bach mit einem rasenden Abwärtslauf und Tremoli in der Continuo-Gruppe aus.
Auch sonst sind die akkordisch begleiteten Rezitative bei aller naturgemäßen Schlichtheit ausdrucksstark: Große Intervalle und kühne Harmonik prägen den Bericht des Evangelisten, der noch einmal, bei der Schilderung von Jesu Geißelung (Nr. 18c) aus der Rolle des zumindest einigermaßen nüchternen Erzählers fällt. Wie an vielen Stellen der Johannes-Passion ist hier der verminderte Septakkord (fis-a-c-es) exponiert, der nach barockem Verständnis aus zwei ineinander verschränkten „defekten“ Quinten besteht und damit Sinnbild des Unvollendeten ist.
In der zunehmenden Intensität des Passionsgeschehens dienen die elf Choräle und acht Arien als retardierende Elemente, die – zuweilen nur lose Bezug nehmend zur Handlung – für Minuten der Besinnung sorgen. Sie tun dies im Ganzen seltener als in Bachs Matthäus-Passion. Dieses spätere Schwesterwerk ist in wesentlich stärkerem Maße von den Betrachtungen des mitleidenden und bußfertigen Ich geprägt, die den eigentlichen Passionstext sublimieren sollen.
Bach hat den in zwei Fällen von einem Arioso eingeleiteten solistischen Gesängen der Johannes-Passion die Form variierter Da-capo-Arien gegeben. Der Schwierigkeitsgrad ist erstaunlich, bedenkt man, dass Bach die Solisten in der Regel aus seinen Chören rekrutierte; und über deren musikalische Qualitäten gab der Meister gelegentlich wenig Schmeichelhaftes zu Protokoll. Wie stets bei diesem Komponisten zeichnen sich auch die Arien der Johannes-Passion durch eine feinsinnige Verbindung von Wort und Ton aus. In der Tenor-Arie „Erwäge, wie sein blutbefleckter Rücken“ (Nr. 20) ist den „Wasserwogen“ eine wellenförmige Figur zugeordnet; der „allerschönste Regenbogen“ bekommt selbstredend die allerschönste Kantilene in der Art eines Bogens. Die virtuose Bass-Arie „Eilt, ihr angefochtnen Seelen“ (Nr. 24) hat Bach mit absichtlich aus dem Tritt geratenen Rufen der verirrten Seelen („Wohin?“) verbunden. Auch der Chor äußert sich bildhaft: So häufen sich im Notentext kreuzförmig angeordnete Linien, sobald die Menge „Kreuzige“ fordert.
Entscheidender Spannungsträger sind ohnehin die 14 Chorsätze, in denen sich der biblische Wutbürger artikuliert und sich der Hass der zunehmend aufgehetzten Volksmenge Bahn bricht. Für deren Falschheit hat der Komponist ein Klang-Sinnbild gefunden, indem er dem Stimmengewirr Satz-Fehler unterschob und Fugen betont zopfig anheben ließ. Dagegen wirkt die nachgerade exzessive Chromatik der Nummern 16b und 16d noch heute atemberaubend fortschrittlich. Dabei verfuhr Bach sehr ökonomisch. Gleich fünf der überwiegend polyphonen Chorsätze liegt ein und derselbe Orchesterpart mit unaufhörlichen Sechzehntelketten zugrunde. Auch die in dieses Grundmuster hineinkomponierten Partien des vierstimmigen Chors weisen mannigfache Entsprechungen auf.
Solche Beobachtungen haben zu der Annahme geführt, das Werk gehorche den Gesetzen einer verborgenen Symmetrie. In der Tat lässt sich um den Choral „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“ (Nr. 22) ein axialer Aufbau konstruieren. Doch ist Bachs Johannes-Passion fraglos in weit stärkerem Maße der fesselnden Nacherzählung des Leidens und Sterbens Christi verpflichtet als einem Formschema gleich welcher Art. Zumal Sachzwänge den äußeren Rahmen vorgaben. So trennte in Leipzig eine sage und schreibe einstündige Karfreitags-Predigt die beiden Teile der Passion.
Eckpfeiler des Werks sind die beiden großen Chorstücke Nr. 1 und Nr. 39. Gerade im einleitenden „Herr, unser Herrscher“ erreicht Bachs Kunst, Themen in schier unendlicher Vielfalt zu kombinieren, einen einsamen Gipfel. Über dem unerbittlich schreitenden Bass sind zunächst Vorhalts-Dissonanzen der Bläser zu hören – eine Vorschau auf die Leiden; dann aber folgt auf einem an den achten Psalm angelehnten Text eine fast herrische Geste in Akkorden, kreiselnden Sechzehnteln und versetzten Einsätzen: die musikalische Illustration der zentralen Aussage des Evangelisten, dass Jesus auch in der Erniedrigung unangefochtener Weltenherrscher bleibt. Vorübergehend hat Bach das Stück durch den vergleichsweise schlichten Satz „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ ersetzt, der in der Matthäus-Passion den ersten Teil beschließt.
Ohnedies hat Bach wiederholt in den Notentext eingegriffen mit dem Ergebnis, dass heute vier Fassungen aus seiner Zeit bekannt sind, ohne dass eine davon als letztgültig bezeichnet werden kann. Die diesem Konzert zugrundeliegende Partitur ist der ersten und der vierten Leipziger Aufführung angenähert. An der Besetzung (je zwei Flöten und Oboen, Oboe da caccia, Streicher und Continuo) fällt vor allem die Verwendung der Viola d’amore in den Stücken Nr. 19 und 20 auf. Mit seinen unter den eigentlichen Griffsaiten aufgespannten Resonanzsaiten erzeugt dieses Instrument einen eigentümlich milden Klang.
In mildes Licht ist auch der Schluss der Johannes-Passion getaucht. So deutlich das Werk am seinerzeit modernen expressiven Opernstil orientiert ist, so klar ist am Ende der Triumph der Innerlichkeit über äußerliche Dramatik. Im „Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine“ (Nr. 39) verströmt der eben noch belfernde Chor wahrhaft himmlische Ruhe, bevor ein lieblicher Choral in Ex-Dur eine kindliche Ahnung vom Jenseits einfängt.
Christian Knatz©