Schubert

Hier irrte Goethe. Die Zusendung von ein paar Liedern auf   seine Gedichte durch einen gewissen Franz Schubert beantwortete er nicht. Wer war schon dieser nicht einmal Zwanzigjährige aus Wien? Nun, es war der Komponist, der die Tonkunst aus der Klassik in ein neues Zeitalter beförderte, und es war das mitgeschickte „Gretchen am Spinnrade“, das im Jahr 1814 „die Geburt des deutschen romantischen Lieds“ (Peter Jost) markierte.

Ziemlich sicher war das, was Schubert tat, aber gar nicht im Sinne Goethes. Der Geheimrat, nicht bekannt für fehlendes Selbstbewusstsein, ließ Musik zu seiner Poesie nur gelten, sofern sie sich vollends unterordnete. Schubert, bei dem das Lied, anders als bei seinen großen Wiener Vorgängern, im Zentrum des Schaffens stand, hatte anderes im Sinn. Mit mehr als 600 Beiträgen etablierte er die Gattung Lied als eigenständige Kunstform, in der Ton und Wort auf Augenhöhe miteinander kommunizieren. Zwar stellte er die Musik in den Dienst der literarischen Vorlage, indem er „die Gedanken des Dichters zum Klingen brachte“ (Matthias Frerichs); sie setzt aber eigene Akzente im Sinne einer Textinterpretation. Mit dem behutsamen Einsatz ihrer spezifischen Ausdrucksmittel mausert sie sich von der Begleitmusik zum autonomen Träger von Emotion und Gehalt.

Ein frühes Beispiel für den Einklang der Künste ist das nur ein Jahr nach dem Gretchen entstandene Heidenröslein. Viel brauchte Schubert auch hier nicht für die Veredelung des Goethe-Gedichts zum Solo-Strophenlied, zuvorderst eine genial einfache Melodie. Wohl nur die Selbstmord-Fantasie vom „Lindenbaum“ ist freilich so konsequent als Sinnbild einer Heidi-Romantik missverstanden worden wie dieses Lied mit seiner Melange aus Liebe und Grobheit, dessen letzte Strophe den Worten eines Interpreten zufolge „im schlimmsten Fall einer Vergewaltigung gleichkommt“.

Nicht immer fanden Schubert und seine Dichter ihr Heil in der Sublimierung des Schlimmen. Der Tod und das Mädchen etwa beschreibt recht plakativ die dramatische Begegnung eines buchstäblich zu Tode erschrockenen Kindes mit dem Schnitter, der sich als Helfer andient. Das schreitende Thema der Klavierbegleitung hat Schubert später  im zweiten Satz seines nach dem Lied benannten Streichquartetts variiert.

Mindestens ebenso fesselnd wird der seelische Zwiespalt der Jungen Nonne zwischen irdischer Leidenschaft und himmlischer Erlösung geschildert. Der wildbewegte Klavierpart ist ein gutes Beispiel für das von Dietrich Fischer-Dieskau beschriebene „kompositorische Eigenleben“, das Schubert dem Instrument im Lied einhaucht.

Ebenso typisch ist die Wahl dunkler Themen. Tiefe und unverstellte Direktheit kennzeichnen vor allem die späten Lieder, deren Geheimnis Theodor Adorno in die Worte gefasst hat: „Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus den Augen, ohne erst die Seele zu befragen, so unbildlich und real fällt sie in uns ein.“

Manchmal kommt das Verderben auch ganz unschuldig daher, zum Beispiel in Gestalt eines munter plätschernden Bachs, der einen Müllergesellen begleitet – in eine tödliche Tragödie aus Verliebtheit und Eifersucht. Wohin? steht am Anfang der Liednovelle „Die schöne Müllerin“ von Wilhelm Müller, bei deren Vertonung – wie auch bei der Liebesbotschaft – Schubert auf eines seiner Lieblings-Gleichnisse zurückgriff: das Wasser als Seelenspiegel, als Symbol für Bewegung und Bewegtheit.

Das 1825 geschriebene Männerchorstück Der Gondelfahrer zeigt mit plätschernden Sechzehnteln, dass der Komponist im mehrstimmigen Gesang grundsätzlich auf dieselben Kunstgriffe setzte. Schuberts Chormusik steht heute im Schatten seiner Solo-Lieder, zu seinen Lebzeiten war das anders. Während letztere vor allem bei den erst im Nachhinein berühmt gewordenen Zusammenkünften von Schubert und seinen Freunden dargeboten wurden, fanden die Chorstücke früh ihren Platz auf der Bühne; der Gondelfahrer etwa erstmals im Jahr der Entstehung bei der Wiener „Gesellschaft der Musikfreunde“.

Gemeinsam ist beiden Liedarten, dass in der Regel ein Klavier dabei ist und dass sie sich nicht auf einen Formtypus festlegen lassen – der Bogen spannt sich  vom Strophenlied bis zur rhapsodisch gesponnenen Erzählung. Gemeinsam ist ferner die „naturhaft elementare Schönheit“, die Werner Oehlmann lobt, und der relativ geringe kompositorische Aufwand: ein einziger überraschender Mollklang hier, eine jäh auffahrende Geste dort, und alles ist anders. Gemeinsam ist schließlich die enorme Bandbreite der Sujets, die Schubert in Töne setzte.

Für den Meister zählte einzig die Inspiration: „Ja, das ist halt ein gutes Gedicht, da fällt einem gleich was Gescheites ein, die Melodien strömen herzu, dass es eine wahre Freude ist“, äußerte er einmal.

Damit konnte sogar ein bescheidener Beitrag wie der Gondelfahrer seines Freundes Franz Mayrhofer gemeint sein, den zum Glockenklang des Markusdoms eine kühne Rückung auszeichnet. Das 1827 uraufgeführte Ständchen, die Auftragsarbeit einer Musikerin, kann ebenso dem Biedermeier im engeren Sinn zugerechnet werden. Aber welch reizende Musik hat sich Schubert hier für eine reizende Szene ausgedacht! Eine Schar Geburtstags-Gratulanten, Alt-Solo und Männerchor im Wechselspiel, schleicht sich mitsamt herbeigekarrtem Klavier an ein Fenster, singt Altkluges von Zuneigung und Schläfrigkeit und trollt sich wieder.

Gegenpol zur harmlosen Heiterkeit ist der Männerchor  Grab und Mond nach Johann Gabriel Seidl, gleichfalls ein Freund Schuberts. Das nachtdunkle Stück auf einen verrätselten Text wartet mit schier atemberaubendem Wechsel der Tonarten auf. Kaum zu glauben, dass derselbe Komponist einige Jahre zuvor die vom Wechselgesang der Stimmgruppen zusätzlich belebte Hymne An die Sonne geschrieben hat. Wie bei so vielem in Schuberts Schaffen zielt das Stück auf eine religiöse Aussage, ohne dass der Tonschöpfer damit wirklich geistliche Musik nach der Vorstellung seiner Zeitgenossen geschrieben hätte. Vom Programm des heutigen Abends ist einzig der Psalm 23 kanonisch korrekt und dabei in der Disposition der Harmonien und Lautstärken von geradezu göttlicher Vielgestaltigkeit. Schuberts Freistil-Katholizismus findet seine genauere Entsprechung indes in der zu einer Genesung komponierten und großzügig bezahlten Geburtstagshymne Des Tages Weihe oder in dem 1822 komponierten Frauenchorstück Gott in der Natur, in dessen schnellem Schlussteil der Pianist eine  für Schubert ungewöhnliche Virtuosität an den Tag legen muss.

Das an einem einzigen Tag geschriebene und auch noch aufgeführte Gebet für gemischten Chor versucht erst gar nicht, seine geradezu unziemliche Expressivität als Kirchenmusik auszugeben. Gerade die Gestaltung der Soli verrät die Nähe zur Oper. Für den jugendlichen Enthusiasmus der sechsten Strophe etwa hat Schubert in einem Tenorsolo ebenso die richtigen Töne gefunden wie für die Heilsgewissheit der Schlusswendung.

Ja, man kann ohne Übertreibung sagen: Der Meister des Lieds traf in dem von ihm geadelten Genre immer den richtigen Ton. Instinktiv, „mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit“ (Frerichs) erfasste Schubert Gehalt und Fluidum eines Textes, zu dessen Veredelung er seine ganze Kunst verwandte. Goethe hat das nicht verstanden. Viele andere Poeten sprechen heute nur noch zu uns, weil Schubert sie einst verstand.

Christian Knatz©