Bach-Motetten

„Die Mehrzahl der Motetten betont einen stark figurativen, instrumental-dominanten Vokalsatz“, heißt es im Musiklexikon „New Grove“. Was fachsprachlich und irgendwie harmlos klingt, kann für Sänger zum Problem werden: Johann Sebastian Bachs Motetten bewegen sich häufig am Rand der Raserei, bieten wenig Zeit zum Luftholen, sind stellenweise unerfreulich für Singstimmen gesetzt und tun fast durchweg so, als seien flinke Instrumentalisten zugange.

Dabei schrieb der Meister zumindest die meisten in seiner Zeit als Leipziger Thomaskantor, als Instrumentalstücke für ihn zur Nebensache wurden. Hauptsache war die Komposition von Kantaten, damals eine moderne Form, die sich gut in den protestantischen Gottesdienst einfügen ließ. Weder hierhin noch in Bachs Arbeitspensum passten dagegen neue Exemplare des veralteten Typs Motette. Seit jeher nannte man so Gesangsstücke, in denen vor allem die Polyphonie, das kunstvolle Ineinanderschlingen der Stimmen, ihren Platz hatte.

Doch Bach machte Ausnahmen. Seine wahrscheinlich acht Motetten – in drei Fällen ist die Autorschaft nicht vollends geklärt – sind für den Musikwissenschaftler Werner Oehlmann „ein absoluter Höhepunkt aller Chormusik“. Die sechs gewichtigsten sind heute Abend zu hören. Ihre Komposition war jeweils die Erfüllung vermutlich lukrativer Aufträge für Festlichkeiten in Leipzig, in der Regel wohl Begräbnis- oder Gedächtnisfeiern.

Wer sie heute unbefangen hört, mag kaum an einen traurigen Hintergrund glauben. Das Vertrauen indes, dass der glaubende Mensch seinen Leib verliert, aber das ewige Leben gewinnt, ist der Schlüssel zur Theologie dieser freudvollen Musik und das einigende Band um fast alle diese sehr unterschiedlichen Werke.

In einem Fall sind sogar Anlass und Entstehungszeit bekannt. Noch zu Lebzeiten hatte sich der Rektor der Thomasschule, Johann Heinrich Ernesti, für sein Begräbnis eine Vertonung von Teilen des Römerbriefs gewünscht. Im Oktober 1729 geleitete mit Der Geist hilft unser Schwachheit auf ein vom ersten Takt an außergewöhnliches Stück den Professor in den Himmel. Im achtstimmigen,  einem Konzert gleichenden Satz gebärden sich zwei Chöre wie aufgedreht. Sogenannte Koloraturen auf dem Wort „Geist“ weisen meist sinnig in die Höhe. Auch andere musikalische Mittel, mit denen Bach den Text in Noten abbildet, sind gut zu hören: Bei „Denn sie wissen nicht“ bannen Pausen das Nichtwissen in der Stockung; auf das Wort „seufzen“ in der anschließenden Fuge seufzt der Chor in charakteristischen Intervallen. Aber es ist in diesem Fall eine Geste des Behagens, und so endet auch dieser Abschnitt in heiterem F-Dur.

Dann aber wird es doch noch etwas gesetzter. Die Chöre vereinen sich zur archaisch klingenden Fuge „Der aber die Herzen forschet“, vermutlich das Recycling-Produkt aus einem anderen Stück, was zu Bachs Zeiten üblich und statthaft war. Den zwei getroffenen Aussagen über den Heiligen Geist entsprechen die zwei Themen dieses Schlusstücks, dem Bach später die dritte Strophe des Luther-Lieds „Komm, Heiliger Geist, Herre Gott“ angehängt hat.

Zu dieser Motette sind vom Komponisten geschriebene Stimmen für Bläser und Streicher überliefert, die den Satz je eines der Chöre mitspielen. Eine Begleitung der Motetten durch Instrumente ist also keine verfälschende Zutat, schon gar nicht der Einsatz eines Continuos aus Cello, Fagott, Laute, Cembalo und/oder Orgel, das für die richtige Akkord-Schichtung mancherorts sogar unerlässlich ist.

Diese Begleitgruppe hat in Lobet den Herrn, alle Heiden sogar selbstständige Stimmen. Sonst fällt vor allem auf, was diese vierstimmige Motette im Vergleich zu ihren Schwesterwerken alles nicht hat. Bach-Forscher Christoph Wolff betont dennoch, die Echtheit des den 117. Psalm vertonenden Stücks sei „wohl zu unrecht angezweifelt worden“. Es könnte sich freilich um das Bruchstück eines größeren Werks handeln.

Aber was für eins. Ein lyrischer Mittelteil wird umschlossen von zwei Sätzen, die nach Angaben des Musikers Andreas Bomba nur von einem „versierten, technisch beschlagenen Chor“ gemeistert werden können: ein von Dreiklängen und Achtelketten durchsetzter Eingangschor und eine abschließende Presto-Fuge, die an die Grenzen des Singbaren heranführen kann.

Bei Komm, Jesu, komm geht es erst einmal beschaulicher zu. Flehentlich, mit zunehmender Eindringlichkeit heißt es da „Komm“ – das Thema Lebenssattheit und Sehnsucht nach dem ewigen Leben wird mit ein paar Akkorden skizziert. Als wahrscheinlicher, aber nicht belegter Anlass zum Schreiben des Stücks gilt eine Totenfeier; ausnahmsweise zog Bach keinen Bibeltext heran, sondern eine fromme Dichtung des Thomasschullehrers Paul Thymich, verfasst für eine Begräbnisfeier im Jahr 1684.

Deren Textbausteine werfen sich die beiden vierstimmigen Chöre zu. Die Musik trägt auch hier die Botschaft ganz offen: Der „müde Leib“ schleppt sich in Dissonanzen und matt fallenden Noten dahin; „die Kraft verschwindt“ in fallenden Akkordbrechungen; zum „Sehnen“ erklingt ein sehnsuchtsvolles Schmachten; der „saure Weg“ klingt auch so.

Dann aber heißt es, diesmal von Begeisterung getragen, wieder „komm“. Und als wenn das nicht genug wäre, feuern sich die Chöre im munteren 6/8-Takt gegenseitig an, bevor die elfte Strophe des Thymich-Gedichts die Motette als melodiöser Quasi-Choral beendet.

Ein echter Choral bildet die Grundlage für die umfangreichste Bach-Motetett. Ob auch Jesu, meine Freude als Trauermusik diente, bleibt ungewiss. Sicher ist, dass Johann Sebastian Bach mit dem spätestens 1735 komponierten Werk eine Art Allerheiligstes der Kirchenmusik schuf. Es hat „geradezu den Charakter eines Glaubensbekenntnisses“, schreibt Reclams Musikführer. Die theologische Aussage, die das wahre Leben in Christo über das Leben in der schnöden Welt erhebt, hat Bach in eine bis ins Letzte durchdachte musikalische Predigt gekleidet: In strenger Symmetrie wechseln sich die sechs Strophen des titelgebenden Kirchenlieds von Johann Franck mit fünf passenden Zitaten aus dem Paulus-Brief an die Römer ab.
Auf die vierstimmige Vertonung der ersten Liedstrophe folgt ein Einschub, dessen Reiz im Wechsel von Emphase (zum Beispiel das Wort „nicht“) und Bewegung liegt. Die zweite Strophe mündet in ein geradezu überirdisches Frauen-Terzett mit der Kernaussage der Motette – der erste von gleich drei Zentralpunkten des Stücks. Es folgt als dramatisches Zentrum die geradezu zerfetzte dritte Strophe, in der Bach zur musikalischen Bebilderung des Bösen ein wahres Bestiarium von der Leine lässt: Schmerzhaft dissonante Akkorde, ein spitzes Unisono, ein Chor, der bald belfert, bald flüstert, und der Bass, der auf das Wort „tobe“ außer Rand und Band zu geraten scheint, prägen die Szenerie, ehe in der ruhigen Linienführung des „Ich steh hier und singe“ Glaubensgewissheit die Oberhand gewinnt.
Wer dann noch nicht verstanden hat, welche Welten hier gegenübergestellt werden, den belehrt die folgende, an zentrale Position gerückte Fuge: Über das kurze, schnörkel-, ja fleischlos gesetzte „fleischlich“ schwingt sich mühelos das ausgezierte „geistlich“ auf. Die erst wild bewegte, dann von Seufzen und Klagen bestimmte vierte Liedstrophe bereitet das zweite Terzett vor, in dem Alt, Tenor und Bass in C-Dur den Triumph des Geistes verkünden.
Die Abkehr von der Welt in Form eines wie von einem Instrumentalbass begleiteten Frauengesangs zur gedehnten Liedmelodie, dann die von einem Sopran-Jauchzen abgeschlossene Variante des ersten Motetten-Einschubs und zuletzt der schlichte Schlusschoral vollenden das Werk, mit dem Bach einer zu seiner Zeit aus der Mode gekommenen Gattung die Krone aufgesetzt hat.

An Berühmtheit ebenbürtig ist allenfalls Singet dem Herrn ein neues Lied aus den Jahren 1726 und 1727. Kein Wunder. Von Anfang an bietet das Werk, das unter anderem zwei Psalmen zur Textvorlage hat, fast überschnappend fröhliche Musik für zwei vierstimmige Chöre. Viele Noten auf der Silbe „sing-“, ein sogenanntes Melisma, sorgen für Aufschwung. Während Sopran und Bass das Wort „freuen“ mit Tongirlanden umschlingen, hüpft der Tenor wie narrisch herum. Ist eine Steigerung überhaupt möglich? Bach versucht es mit einer „prächtigen Fuge“ (Werner Oehlmann), die erst nach Aufforderung von Chor II („singet“) mit den Worten „Die Kinder Zion“ anhebt.

Nun ist eine Atempause angebracht. Der zweite Chor singt eine Liedstrophe von Johann Gramann, der erste Chor kommentiert es ruhig und kundig. Der Schlussteil nimmt wieder Fahrt auf; einem achtstimmigen, geradezu atemlosen Wechselgesang folgt eine auf vier Stimmen beschränkte Fuge im – so der Reclam – „Freudenrhythmus der Alten Musik“.

Geradezu ein Ruhepol inmitten all dieser ein bisschen aufgekratzten Heiterkeit ist der Trostgesang Fürchte dich nicht, ich bin bei dir auf Worte des Propheten Jesaja. Statt Kleinteiligkeit gibt es hier einen großen Dialog der beiden Chöre; einzig der Bass will anfangs nicht mitmachen. Watteweich legen sich verschobene Rhythmen ineinander. Damit das nicht einlullend wirkt, lässt Bach einiges geschehen. So steuert die Musik entlegene Tonarten wie Gis-Dur an; die Devise „ich stärke dich“ ist als große Geste gefasst, während das Wort „erhalten“ Haltenoten bekommt.

Und wieder wird die einigende Kraft einer Schlussfuge bemüht. Aus acht werden vier Stimmen, die zwei Motive bis zur Erschöpfung präsentieren: „Ich habe dich erlöset“ weist in Halbtönen nach unten, „ich habe dich bei deinem Namen gerufen“ mit leitereigenen Tönen nach oben; dazu treibt ein Daktylus (dammdada) das Geschehen an. Und das ist nur die Begleitung zu den Strophen elf und zwölf des Paul-Gerhardt-Gedichts „Warum sollt’ ich mich denn grämen?“, das der Sopran vorträgt.

Wie immer ist alles extrem kunstvoll gearbeitet. Doch die Meisterschaft im Verflechten von Stimmen, im Setzen von kühnen Wendungen und Kombinationen bringen hier wie sonst nur in die Nähe des Gipfelkreuzes, auf dem der Name Bach zu lesen ist. Die einzigartige Verknüpfung von Wort und Ton, die gleichrangige Bedeutung als weltliche Konzertstücke und geistliche Predigten erst machen Bachs Motetten zu einem Stück Weltkulturerbe.

Christian Knatz©