Britten

Das Zeug muss man wirklich nicht mögen. Aber so wie Benjamin Britten im dritten seiner Five Flower Songs die Sumpfblüten seiner englischen Heimatregion Suffolk porträtiert hat, können sie einem fast wieder leid tun. Die Nessel piesackt in geschmierten Tonfolgen, sogenanntem Portamento; das Gift des Nachtschattens wird in gezackten Linien verspritzt, der Tang wälzt sich in glibberigen Triolen auf dem Wasser.

Obwohl Britten die fünf Stückchen 1950 zur Silberhochzeit der Hobby-Botaniker Dorothy und Leonard Elmhirst schrieb, ist immer auch etwas anderes gemeint als Blumen. Schon George Crabbe hatte wohl nicht bloß Grünzeug im Sinn, als er sein Riesengedicht „The Borough“ schrieb, das in den „Marsh Flowers“ zum Teil vertont ist. Herausgekommen ist nicht nur eine Beschwörung des herben Charmes der englischen Ostküste, sondern eine klingende Attacke auf die Spießigkeit mancher Kleinstädter, bei denen der homosexuelle Künstler nicht wohlgelitten war.

Diese Spitze wirkt um so mehr, weil sie von melancholischer Poesie umgeben ist. Gleich zwei der Songs haben die Vergänglichkeit zum Thema. „To Daffodils“ ist ein musikalisches Abbild von Narzissen im Wind. Der Barock-Dichter Robert Herrick zieht ausdrücklich Parallelen zum Dasein des Menschen, und Britten macht daraus ein Lehrstück musikalischer Flüchtigkeit. Mit dem vierten Stück teilen diese Narzissen die Verschleierung des Metrums und damit einen Zug ins Ungefähre.

„The Evening Primrose“ ist eine Meditation über die Nachtkerze, die nur ein einziges Mal und dann noch in der Dunkelheit blüht. Der Text des Landarbeiters John Clare hat Britten zu einem Zauberstück inspiriert, in dem ein auf- und absteigender Septakkord vom Werden und Vergehen kündet und selbst scharfe Dissonanzen schön klingen.

Da aber Britten seinen Gönnern – die Elmhirsts unterstützten seine Opernkompanie – nicht mit allzuviel Schwermut das Fest verderben wollte, bieten zwei weitere Lieder leichtere Kost. „The Succession of the Four Sweet Months“ ist ein spielerisches Stelldichein der Monate April, Mai, Juni und Juli mit einem originellen Schluss. Die „Flower Songs“ enden mit der Erfolgsgeschichte eines zunächst antriebslosen jungen Mannes, dem sein Vater Beine macht, bis er Ginster schneidet und darüber die Frau fürs Leben findet. Man kann ihm beim Holzmachen – die Begleitstimmen hacken und sägen – zuhören und darüber sinnieren, dass Ginster nicht nur bei Besenbindern, sondern auch bei Brautleuten beliebt ist.

Noch wesentlich vieldeutiger geriet Britten sein acht Jahre zuvor entstandenes Hymn to St. Cecilia. Das war kaum zu vermeiden bei einem Text, den W.H. Auden in sehr persönlichem Sinn für seinen Freund und Mitbewohner verfasst hat. Über Bande zielen die kunstvoll in altertümliche Sprache gekleideten Verse auf den Komponisten selbst, auf sein Selbstverständnis als Mensch und Musiker.

Der erste von drei Teilen des Werks präsentiert die Kurzfassung der Heiligenlegende mit einem gravitätisch schreitenden Motiv, das als Fundament-Baustein schon Gustav Mahlers erster Sinfonie dient. Wie die übrigen endet auch dieser Abschnitt mit einer Anrufung der Heiligen, die bildhaft auf die Erde herabsteigt, um den Musikern Inspiration zu geben.

Es folgt ein huschendes Fugato mit noch merkwürdigerem Text: über ein „Ich“, das keinem etwas zuleide tut und nur spielen will. Es darf gerätselt werden – Spricht hier die Musik, deren Schutzpatronin Cäcilia ist, oder gar Britten selbst derart zungenbrecherisch?

Dann überschlagen sich die Ereignisse erst recht. Ein von den Oberstimmen umspieltes beharrliches Bass-Motiv führt über ein Sopransolo voller Seufzer zu musikalischen Bildern von seltener Eindringlichkeit: Vier Instrumente –Violine, Trommel, Flöte, Trompete – künden von der Erlösung durch Leid.

Das Ganze ist wohl ein imaginärer Dialog mit Cäcilia, in dem die verlorene Unschuld zentrales Thema ist. Forscher vermuten hinter dem Text ein Psychogramm Brittens, der ausgerechnet am Festtag der Heiligen Geburtstag hatte. Zeitlebens wurde er von Depressionen und Selbstzweifeln geplagt. Kann auch ein Künstler die Unschuld und damit die schöpferische Ader verlieren? Wie zur Selbstvergewisserung schuf Britten nahezu zeitgleich seine berühmte „Ceremony of Carols“, welche die reine Unschuld feiert. Mit der Hymne trat Auden seinem Freund offenbar etwas zu nahe. Das Verhältnis der beiden kühlte sich rasch ab.

Im Gegensatz dazu war Britten bis zu seinem Lebensende mit seiner 1955 geschriebenen Antiphon so glücklich, dass er das Stück für Gedenkfeiern nach seinem Ableben vormerken ließ. Tatsächlich gelang es ihm hier, dem Prinzip des Wechselgesangs eine ausgesprochen einfallsreiche Form zu geben: Aus einer Art musikalischer Ursuppe der Orgel erhebt sich ein von hymnischen Einwürfen des vollen Chores unterbrochener Dialog zwischen Engeln (Soli) und Menschen (Tiefchor). Nach einer Fuge, die besingt, wie Gott aus zwei Herden eine macht, folgt zum Schluss ein Kunstgriff besonderer Güte: Der Chor der Engel betont mit einem mehrfach wiederholten Dreiklang der Grundtonart F-Dur die Einheit der Herde („one“). Dem setzt der Tiefchor sein „two“ in buntschillernden Akkorden entgegen. Zwecklos: Im fünften Anlauf singen die Menschen – auf irdischem Niveau – dem Himmelsensemble nach dem Mund.

Die Musik fußt auf der gleichen Mischung von Experimentierlust und Traditionsliebe wie die Cäcilien-Hymne, hat aber keinen doppelten Boden, der zu unangenehmen Selbsterkenntnissen führt. Der Blick geht nach oben, nicht nach innen, und das verbindet die „Antiphon“ mit zwei weiteren geistlichen Kompositionen Brittens. Seine 1959 für Knabenchor geschriebene Messe in D war für eine katholische Kirche in London vorgesehen; es fehlt ihr aber als „Missa brevis“ das für Katholiken so wichtige Credo. Das Bemühen um dreierlei ist in dem Stück erkennbar: Originalität zeigt sich unter anderem im Spiel mit Tonarten in Kyrie und Sanctus und mit seltenen Metren in Gloria und Agnus Dei. Es fällt außerdem die Knappheit des kaum zehn Minuten beanpruchenden Werks auf, in dem auf engstem Raum all diese Kniffe und dazu extreme Lautstärke-Unterschiede Platz finden. Sie fügt sich in den Zug zur Einfachheit und Eingängigkeit, für die etwa eine Kantoren-Intonation im Gloria oder ständig wiederholte Figuren stehen. Das Stück endet damit, dass eines dieser sogenannten Ostinati über sich hinauswächst.

Dass es Britten schon als Schüler um Fasslichkeit zu tun war, belegt sein im Alter von 17 Jahren komponiertes A-cappella-Stück A hymn to the Virgin. Vereint durch kirchentonartliche Färbung und schlichte Fortschreitungen, singt ein großer Chor englische Verse, auf die ein Favoritchor in Latein antwortet. Den zugrundeliegenden Text aus dem Mittelalter hatte Britten dem „Oxford Book of English Verses“ entnommen.

Edward Elgar ist noch vor Britten der erste Komponist, der England nach seinen Renaissance- und Barockmeistern wieder zu Weltgeltung in Sachen Musik verholfen hat. Seine spätromantische Orgelsonate wird derzeit auch in Deutschland in der einen oder anderen Kirche wieder gespielt – im Zuge der Neuentdeckung des Insel-Idioms, an das sich der Hörer deutscher oder französischer Orgelmusik erst gewöhnen muss.

Christian Knatz©