Bach

In Erfurt nannte man noch um 1800 die Stadtpfeifer kurzerhand „Bache“, obwohl schon lange kein Musiker mit Namen Bach in der katholischen Exklave Dienst tat. So etwas nennt man Dominanz: Weit mehr als ein Jahrhundert lang wurde der mitteldeutsche Raum musikalisch von einer Sippe geprägt, von der heute fast nur noch Johann Sebastian Bach und seine Söhne in Köpfen und Konzerten verankert sind.

Vor gut 300 Jahren hingegen waren rund um Arnstadt und Weimar wesentliche Positionen von Instrumentalisten, Kantoren und Instrumentenbauern namens Bach besetzt; da löste oft ein Familienmitglied ein anderes ab. Die Organistenstelle von St. Georg in Eisenach etwa war gleich 150 Jahre lang in der Hand des Clans.
Die thüringischen Lande waren ein guter Nährboden für ihn mit ihrer lutherischen Kirche und den zur Prachtentfaltung neigenden kleinen Höfen – und doch brachten die Bachs in diesem Maßstab als Komponisten überwiegend „solides Mittelmaß“ hervor, wie der herausragende Bach-Forscher Christoph Wolff bemerkt.
Johann Christoph (1642-1703) und Johann Michael Bach (1648-1694) kann er nicht gemeint haben. Der alle überragende Johann Sebastian Bach (1685-1750) hat sich unter anderem in der von ihm begonnenen Familienchronik „Ursprung der musicalisch-Bachischen Familie“ respektvoll über seine beiden Großonkel geäußert, nannte den ersten „tiefsinnig“, den zweiten „fähig“. Und nicht nur das: Werke der beiden sind Kern der von Johann Sebastian angelegten, von seinem Sohn Carl Philipp Emanuel als „Altbachisches Archiv“ bezeichneten und von beiden für die eigene Praxis genutzten Notensammlung mit geistlicher Musik der Vorfahren. Die erst im Jahr 2001 wieder von der Ukraine nach Deutschland zurückgegebenen 200 vergilbten Notenblätter künden von den Wurzeln des Genies Johann Sebastian.
Diesen verknüpften mit Johann Michael besonders enge Bande, war doch dessen jüngste Tochter Maria Barbara seine erste Ehefrau; über sie gelangte vermutlich die Motette Nun hab ich überwunden ins Altbachische Archiv. Als Nachfolger seines älteren Bruders Johann Christoph auf dem Kantoren- und Organistenposten in Arnstadt und später als Stadtorganist im südthüringischen Gehren hatte der Komponist reichlich Erfahrung sammeln dürfen, die ihm half, den wohl 1679 für das Begräbnis seiner Mutter vertonten Choraltext möglichst wirkungsvoll zum Klingen zu bringen. Neben der nahezu vollkommenen Entsprechung der Betonungen von Wort und Takt ist die Orientierung an ebenfalls doppelchörigen Werken von Heinrich Schütz und Samuel Scheidt prägend.

„Johann Michael zeigt sich als Contrapunktiker nicht eben stark“, urteilt barsch die „Allgemeine Deutsche Biographie“, und tatsächlich weist das im heutigen Konzert gesungene Stück eine größere Neigung zum Musizieren in Blöcken als zu verschlungener Stimmführung auf. Doch die einfallsreiche Mischung stellt die böse Bemerkung in Frage. Schon nach wenigen Takten wird die einfache Imitation des einen durch den anderen Chor durch freieres Konzertieren abgelöst; schließlich verschmelzen beide Ensembles, um in der Art einer Fuge die vom Sopran übernommene Choralmelodie zu begleiten und die Aussage „bin ich versöhnt mit Gott“ ganz in den Mittelpunkt zu stellen.
Die „Allgemeine Deutsche Biographie“ versöhnt derlei nicht; sie billigt den Motetten von Johann Christoph „eine weit größere Originalität als den Werken seines Bruders Johann Michael“ zu. In der Wertschätzung des Älteren kann sich das strenge Nachschlagewerk auf Carl Philipp Emanuel Bach berufen, der seinen Ahn einen „großen und ausdrückenden Componisten“ genannt hat. Den damit wohl gemeinten Hang zur Expressivität zeigt beispielhaft die 1672 entstandene doppelchörige Motette Lieber Herr Gott, wecke uns auf über ein Adventsgebet. Nach acht Takten langsamer Einleitung ertönt ein vom hochfahrenden Sopran überwölbter Weckruf, dann folgt im tänzerischen Dreiertakt ein wirkungsvolles Wechselspiel der Chöre. Der Unterricht bei einem Schütz-Schüler hatte bei dem in Arnstadt und später in Eisenach beschäftigten Organisten offenkundig seine Spuren hinterlassen. Sopran und Bass dürfen die „Freude“ in damals modernen Melismen besingen, das heißt, eine Silbe erstreckt sich über mehrere Töne. Über ein erst vier-, dann achtstimmiges Fugato mit schlichtem Thema führt der Komponist die den Raumklang betonende Motette zu einer „überwältigenden Schlussapotheose“, wie der Musikwissenschaftler Werner Oehlmann schwärmt.
Stücke wie dieses haben zum Urteil des maßgeblichen Musiklexikons „New Grove“ beigetragen, Johann Christoph Bach sei der „wohl bedeutendste Vertreter seiner Familie vor Johann Sebastian“, den er in jungen Jahren im Orgelspiel unterwies. Was ihm die Experten zutrauen, zeigt das Beispiel der abermals doppelchörigen Motette Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Bis vor wenigen Jahren galt sie als Werk von Johann Christoph, doch sie ist 1712 oder 1713 aus der Feder Johann Sebastians geflossen. Zum Begräbnis der Arnstädter Bürgermeistertochter Margarethe Feldhaus legte der Jungkomponist die „vielleicht ungewöhnlichste“ seiner sieben Motetten vor, wie Carol Traupman-Carr notiert hat. Sie passte jedenfalls zu der Textvorlage, einer heute bizarr anmutenden Bibelstelle aus der Schöpfungsgeschichte: Jakob nötigt Gott im Ringkampf dazu, ihn zu segnen, wonach er den Namen „Israel“ (Gottesstreiter) annimmt. Bach katapultiert das Zitat ins Neue Testament, indem er die Worte „mein Jesus“ hinzufügt. Die Chöre singen die zentrale Aussage in immer schnellerem Wechsel, vereinigen sich schließlich zu einer Art Choralfantasie, ähnlich wie in Johann Michael Bachs „Nun hab ich überwunden“: Über eine Fuge der drei Unterstimmen stimmt der Sopran ein Kirchenlied an, bevor sich alle Sänger zu diesem Choral zusammentun.
Ob auch die ungleich umfangreichere Motette Jesu, meine Freude als Trauermusik diente, bleibt ungewiss. Sicher ist, dass Johann Sebastian Bach mit dem rund 20 Minuten beanspruchenden Werk eine Art Allerheiligstes der Kirchenmusik schuf. Es hat „geradezu den Charakter eines Glaubensbekenntnisses“, schreibt Reclams Musikführer. Die theologische Aussage, die das wahre Leben in Christo über das Leben in der schnöden Welt erhebt, hat Bach in eine bis ins Letzte durchdachte musikalische Predigt gekleidet: In strenger Symmetrie wechseln sich die sechs Strophen des titelgebenden Kirchenlieds von Johann Franck mit fünf passenden Zitaten aus dem Paulus-Brief an die Römer ab.
Auf die vierstimmige Vertonung der ersten Liedstrophe folgt ein Einschub, dessen Reiz im Wechsel von Emphase (zum Beispiel das Wort „nicht“) und Bewegung liegt. Die zweite Strophe mündet in ein geradezu überirdisches Frauen-Terzett mit der Kernaussage der Motette – der erste von gleich drei Zentralpunkten des Stücks. Es folgt als dramatisches Zentrum die geradezu zerfetzte dritte Strophe, in der Bach zur musikalischen Bebilderung des Bösen ein wahres Bestiarium von der Leine lässt: Schmerzhaft dissonante Akkorde, ein spitzes Unisono, ein Chor, der bald belfert, bald flüstert, und der Bass, der auf das Wort „tobe“ außer Rand und Band zu geraten scheint, prägen die Szenerie, ehe in der ruhigen Linienführung des „Ich steh hier und singe“ Glaubensgewissheit die Oberhand gewinnt.
Wer dann noch nicht verstanden hat, welche Welten hier gegenübergestellt werden, den belehrt die folgende, an zentrale Position gerückte Fuge: Über das kurze, schnörkel-, ja fleischlos gesetzte „fleischlich“ schwingt sich mühelos das ausgezierte „geistlich“ auf. Die erst wild bewegte, dann von Seufzen und Klagen bestimmte vierte Liedstrophe bereitet das zweite Terzett vor, in dem Alt, Tenor und Bass in C-Dur den Triumph des Geistes verkünden.
Die Abkehr von der Welt in Form eines wie von einem Instrumentalbass begleiteten Frauengesangs zur gedehnten Liedmelodie, dann die von einem Sopran-Jauchzen abgeschlossene Variante des ersten Motetten-Einschubs und zuletzt der schlichte Schlusschoral vollenden das Werk, mit dem Bach einer zu seiner Zeit aus der Mode gekommenen Gattung die Krone aufgesetzt hat.
Das Lied „Jesu, meine Freude“ hat Johann Sebastian Bach auch zu einem der 46 Choralvorspiele im Orgelbüchlein inspiriert, das nach Vorstellung des Komponisten lehren sollte, „auff allerhand Arth einen Choral durchzuführen“. In allen drei heute gespielten Stücken aus der Sammlung ist die Melodie im Wesentlichen der Oberstimme überlassen. Ein aufmerksamer Schüler von Bachs didaktischem Werk war Johannes Brahms, dessen heute auszugsweise vorgestellte Elf Choralvorspiele nicht die geringste Mühe verraten, das große Vorbild zu kaschieren. In seinem Orgelwerk gesellt sich Brahms gewissermaßen als nordischer Nachfahre zur größten Familie der abendländischen Musik.

 

Christian Knatz©