h-Moll-Messe

„Sie hörten die h-Moss-Melle . . .“ – ein berühmter Radio-Versprecher hat Johann Sebastian Bachs „Summa der Vokalmusik“ (Christoph Wolff) vielleicht noch ein wenig populärer gemacht. Im Verhaspeln mag ein – unfreiwilliger – Hinweis auf den Wesenskern eines Riesenwerks gesehen werden: Auch der Komponist unterlief die Erwartungen, seine Messe ist ein Vexierspiel aus Vertrautem und verstörend Fremdartigem, verwirrend in der „Vielfalt archaischer, traditioneller und moderner Formen und Stilmittel“, so das Internet-Lexikon Wikipedia.

Schon die Entstehungsgeschichte macht es schwierig, dieses Kunstwerk einzuordnen. Obwohl es wahrscheinlich in drei Schüben entstand, gelang es Bach, die Versatzstücke zu einem Großen und Ganzen zu verbinden: Das Sanctus erklang bereits zu Weihnachten 1724 an Bachs Arbeitsplatz in Leipzig; mit Kyrie und Gloria bewarb er sich neun Jahre später nach dem Tod des sächsischen Kurfürsten in Dresden bei dessen Nachfolger um ein Ehrenamt, das er 1736 erhielt. Den Rest ergänzte Bach ab 1748 zur einzigen vollständigen Vertonung des Messetextes aus seiner Feder.

Aber warum? An die Aufführung dieser zwei Stunden beanspruchenden Kantatenmesse aus 15 Chor- und 9 Solostücken war in einem protestantischen Gottesdienst gar nicht zu denken: zu lang, zu reich besetzt (vier- bis achtstimmiger Chor, Orchester mit Bläsersatz), ganz zu schweigen vom klingenden Bekenntnis zur „einen katholischen (das heißt weltweiten) Kirche“. Der Unterbringung im katholischen Ritus wiederum standen typische Leipziger Text-Details im Wege, die es für Konfessions-Kämpfer in sich hatten.

Wozu also dieses Werk? Zwar kam in jüngerer Zeit der Auftrag eines böhmischen Adligen als Initialzündung ins Spiel, doch der Bach-Kenner Christoph Wolff ist sich sicher: Der Komponist wollte mit der h-Moll-Messe – der Name stammt nicht von ihm – sein Vermächtnis in Sachen Kirchenmusik hinterlegen, und da bot sich die zeitlose Form einer Messe geradezu an.

Auch seine Kunst schreitet durch die Zeiten: Konzertstücke mit eingebautem Chor wechseln mit denkbar gegensätzlichen Fugen – Stücken also, in denen die Stimmen zu verschiedenen Zeiten mit denselben Themen beginnen, bis sich die Linien verflechten. Damals hochmoderne, vom Orchester umrankte Exemplare sind ebenso darunter zu finden wie auf alt getrimmte im „stile antico der Zeit vor Bach. „Es ist ein wenig“, merkt der Dirigent Philippe Herreweghe an, „als wenn heute ein Werk nacheinander im postromantischen, seriellen und neoklassischen Stil geschrieben würde“.

Ist die Bandbreite der Stile, Ausdrucksvarianten und Klangfarb-Kombinationen ein Hinweis darauf, dass Bach mit diesem Werk die Summe seines Musikerlebens ziehen wollte, so darf in der Detailarbeit ein weiterer gesehen werden. Je näher man dem Notentext tritt, desto weiter öffnet sich ein Kosmos von Zahlen und Symbolen. Nichts, aber auch gar nichts ist dem Zufall überlassen, und „jedes Mosaiksteinchen in dem kunstvollen Gebäude hat etwas zu bedeuten“ (Walter Blankenburg). So weit geht der Einsatz frommer Zahlensymbolik, dass einzelne Kommentatoren Bach auf Abwegen wähnen: der Künstler als Kabbalist?

Die meisten Kniffe sind gar nicht zu hören. Zum Beispiel fußt die Anzahl der Takte etlicher Stücke auf dem Zusammenspiel von Bibel und Rechenschieber: Die 84 Takte des „Patrem omnipotentem“ beispielsweise setzen sich wohl aus den Faktoren 7 (Schöpfungstage als Symbol göttlicher Vollkommenheit) und 12 (das Symbol der von ebensovielen Aposteln gegründeten Kirche) zusammen. Anderswo tritt Bach eindeutiger als Musiker und Prediger in einem auf. Wo er etwa die Einheit von Gott Vater und Sohn in zwei Personen veranschaulichen wollte, finden sich in der Messe Duette, deren Stimmen sich fortlaufend trennen und vereinigen. Der stets dreimal wiederholte Themenkopf des „Domine Deus“ ist in seinem Aufbau selbst raffiniertes Dreifaltigkeits-Symbol, wie Walter Blankenburg erklärt.

Wie aber passt zum offenkundigen Streben, das ultimative Werk zu schaffen, der Umstand, dass die meisten, vielleicht sogar alle Stücke der h-Moll-Messe „Parodien“ sind? Musikstücke also, die Bach anderen weltlichen oder geistlichen Kompositionen entnahm. Das war in seiner Zeit erstens gang und gäbe und galt selbst bei fremden Federn nicht als Plagiat, sondern als schöpferische Umwidmung. Zumal Bach viel Mühe darauf verwendete, der Musik das jeweilige neue Textkleid anzupassen. Zweitens liegt der Gedanke nahe, dass er auf diese Weise eine Art „Best of“ schuf: Was Bach aus seinem Fundus für besonders geglückt hielt, fand Platz im Werk der Werke.

Die Nachwelt hat es verstanden. Die erste Gesamtaufführung kam zwar erst in den 1830er Jahren zustande, doch schon zwanzig Jahre zuvor hat der Komponist Carl Friedrich Zelter der Messe das unverändert gültige Etikett gegeben: „wahrscheinlich das größte musikalische Kunstwerk, das die Welt gesehen hat“.

Die Ambition ist vom ersten Takt des KYRIE an zu hören. Nach einer Art Aufschrei über vier Takte setzt eine fünfstimmige Fuge ein, die nicht nur für Werner Oehlmann „zu den großen Wundern der Musik“ gehört. Seufzer und Sprünge prägen diese Demonstration spannungsgeladenen Chorgesangs. Während Christe eleison in der Zweistimmigkeit des Sopran-Duetts auf die zweite Person des dreifaltigen Gottes und im damals modernen Stil auf den Neuen Bund mit den Menschen hinweist, setzt Bach im abschließenden Kyrie eleison auf die herbe Erhabenheit einer „orientalisch gefärbten“ (Kurt Pahlen) Fuge im alten Stil, in der Kreuz und Leid schon am kreuzförmigen Notenbild des Themas abzulesen sind.

Das ausufernde GLORIA setzt mit einem von Pauken und Trompeten verstärkten Jubelruf des Chors im sportlichen Dreiachteltakt ein, bevor im Et in terra pax besinnliche Stimmung um sich greift. Doch es wäre nicht Bach, wenn dessen Thema nicht Ausgangspunkt einer von atemberaubenden Koloraturen bestimmten Fuge würde. Mit Erwähnung der Erde (terra) erreicht die Musik die Tonart G-Dur, die als sogenannte Unterdominante der eigentlichen Haupttonart D-Dur immer dann in der Messe auftaucht, wenn Gott sich zu den Menschen herablässt.

Erst mit der von Violin-Virtuosität begleiteten Sopran-Arie Laudamus te kehrt etwas Ruhe ein. Die folgende archaische Doppelfuge Gratias agimus tibi hat Bach mit Bedacht bei seiner im Text nahezu identischen Kantate „Wir danken Dir, Gott“ geborgt; im Domine Deus zeigen abermals Vater und Sohn Einheit in Verschiedenheit, während der Heilige Geist als dritte Person in zahllosen Betonungen der Zahl Drei hindurchschimmert: alles zusammen ein „Wunderwerk“, in dem „die eingebaute Sinnbildlichkeit ein unabtrennbarer Bestandteil des klingenden Kunstwerks ist“ (Blankenburg).

Ebenfalls im Zeichen der Drei stehen das ergreifende Chorstück Qui tollis peccata mundi und die Alt-Arie Qui sedes ad dextram Patris, bevor das majestätische Bass-Solo Quoniam tu solus sanctus der Verzagtheit die schiere Wucht von Oktavsprüngen entgegensetzt – ein Symbol der Allgewalt Gottes, das noch mehrfach wiederkehrt. Einzig das an der Grenze der Aufführbarkeit balancierende Glanzstück Cum Sancto Spiritu kann an dieser Stelle noch für Steigerung sorgen. Bach lässt die Feuerzungen des Heiligen Geists in rasenden Läufen, einer immer drängenderen Jagd der Stimmen und reichlich Trompetengeschmetter auf die Hörer niederregnen.

Wer aber glaubt, nun gebe es wirklich nichts mehr hinzuzusetzen, wird vom CREDO stumm und vielleicht auch ein bisschen fromm gemacht. Gerade im Einleitungssatz hat Bach sich selbst übertroffen. Feinste Fugenkunst paart sich mit Zitaten aus der Gregorianik, der Erhabenheit eines in Vierteln schreitenden Instrumentalbasses und einer kaum zu überbietenden Fülle an verschlüsselten Botschaften; der Ruf „Credo“ etwa schallt 43 mal, und 43 ist der Wert dieses Worts im Nummernalphabet, wo jeder Buchstabe eine Zahlen-Entsprechung hat (A=1, B=2, I/J=9 usf.).

Diese Feinsinnigkeit ist bezeichnend für ein tönendes Glaubensbekenntnis, das Bach symmetrisch um eine zentrale Dreiergruppe aus Fleischwerdung, Kreuzigung und Auferstehung mit dem Crucifixus als Kern der gesamten Messe angelegt hat. Alles zusammen dient der Verherrlichung Gottes in der Dreifaltigkeit, und folgerichtig hat Bach diesen Teil der Messe nicht Credo, sondern „Symbolum Nicenum“ überschrieben: Auf dem Konzil von Nizäa im Jahr 325 legte die Kirche fest, dass Gott in drei Personen ohne Rangfolge dem Menschen gegenübertritt.

Es ist das Wort „Credo“, welches das kraftvolle Patrem omnipotentem mit dem vorangegangenen Chorstück verklammert. Nach erneuter Abbildung der Einheit Gottes im Duett Et in unum Dominum ist das Wirken Gottes auf der Erde (Et incarnatus est) im Gestus klarer zu hören als in der ungebremst eingesetzten Zahlen-Jonglage (7×7 Takte): Der Heiland steigt in Moll-Dreiklängen hernieder, und was das für ihn bedeutet, machen Geigen-Seufzer und scharfe Dissonanzen deutlich. Dass Bach als Crucifixus den Eingangschor seiner Kantate „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ gewählt hat, der wiederum auf das von Antonio Vivaldi ersonnene Klagelied eines verlassenen Liebhabers zurückgehen soll, schmälert Rang und Bedeutung dieses Meisterwerks musikalischer Trauerarbeit nicht. Über eine seit jeher für Niedergedrücktheit stehende Figur des Orchesterbasses ächzt und jammert der Chor zum Erbarmen.

Dann aber darf im Et resurrexit der Jubel ausbrechen mit raketengleichen Figuren oder Ton-Ketten, bevor der Weltenrichter kurz seine (Bass-)Stimme erhebt. Nach der Arie Et in Spiritum sanctum Dominum (12×12 Takte) setzt Bach mit dem Chorstück Confiteor noch eins drauf: Gregorianik im Renaissance-Mantel, urplötzlich ein freies Schwimmen durch alle Tonarten („et expecto“) und dann auf dem gleichen Text eine fast überschnappende Fuge ergeben gemeinsam ein „Dokument eines dramatisierenden, der Zeit vorauseilenden Ausdruckswillen“ (Oehlmann).

Was noch folgt, ist – im Vergleich – kurz, aber gut. Im sechsstimmigen SANCTUS entschweben die Oberstimmen des Chors in Akkorden, die in Dreier-Figuren gesetzt sind, abgelöst von einer herrschaftlichen Geste des Basses, der den Tonraum zwischen Himmel und Erde in Oktaven zu durchschreiten scheint. Aus dem zweiten Thema der geschwinden Doppelfuge „Pleni sunt coeli“ wird das Leitsignal des Osanna in excelsis. In diesem letzten Jubelstück der Messe überbieten sich zwei vierstimmige Chöre in Lobpreisungen. Inniger noch als die Tenor-Arie Benedictus ist das Alt-Solo des AGNUS DEI. Schon die entfernte Tonart g-Moll hebt dieses stille Gebet aus der Masse der Messe heraus.

Und noch einmal darf der Zuhörer einem Kunstgriff Johann Sebastian Bachs lauschen: Das abschließende Dona nobis pacem ist identisch mit dem Gratias aus dem Gloria. Nach allem Anschein hat nicht Bequemlichkeit hier die Feder geführt, sondern der Wille, ein Gesamtkunstwerk, das bis heute ohnegleichen geblieben ist, zum Zyklus zu runden.

Christian Knatz©