Poulenc

Jesus stirbt gleich zweimal. In der dritten seiner Bußzeitmotetten (Quatre motets pour un temps de pénitence) hat Francis Poulenc die Texte aller vier Evangelien kombiniert, und weil er wohl nicht den von Markus und Matthäus überlieferten verzagten Ruf „Mein Gott, warum hast du mich verlassen“ als Schlusssatz stehen lassen wollte, spricht Jesus – nachdem er wie von Johannes beschrieben das Haupt geneigt hat – eben noch mal ein letztes Wort: das von Lukas notierte vertrauensvolle „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“.

Dieser geradezu unerhörte Kunstgriff darf aber nicht dazu verleiten, in dem französischen Komponisten einen religiösen Freischärler zu vermuten. Im Gegenteil: Der Unfalltod eines Freundes im Jahr 1936 hatte den Dandy aus wohlhabendem Hause über Nacht zum tiefgläubigen Christen gemacht. Künstlerisches Resultat dieses Wandels ist der reiche Ertrag an geistlicher Chormusik aus der Feder Poulencs in den folgenden Jahren; zu den frühesten Schöpfungen dieser Phase gehören die 1938 und 1939 geschriebenen vier Bußzeitmotetten. Sie offenbaren einen Tonsetzer, der es versteht, die dramatischen, zur vorösterlichen Zeit passenden Bibelpassagen in eine Musik voller dunkler Leuchtkraft zu gießen. Der begnadete „Melodiker“ Poulenc hat dafür eine Harmonik ersonnen, die zwischen Kirchentonarten und herkömmlichem Dur/Moll schwankt.

Aber was heißt schon herkömmlich? Gleich die erste Motette Timor et tremor auf kombinierte Psalmtexte über menschliche Verzweiflung kommt zwar im tonalen Gewand daher, mündet aber zum Schluss in eine Folge von Klängen, die nach klassischem Verständnis nahezu beziehungslos nebeneinander stehen. Atemberaubende Rückungen, die Vieldeutigkeit scheinbar klar definierter Akkorde, reiche Chromatik – all das hat eine harmonische Instabilität, ja Unstetigkeit zur Folge, die nicht schlecht zur Karwoche passt.

Vinea mea electa, eine Zusammenschau der Worte Mose, Jeremias und Jesajas, stellt dem in berückendes Dur gesetzten Bild vom erlesenen Weinstock eine schneidende, laute Anklage gegenüber: Warum wird Jesus gekreuzigt, und der Verbrecher Barrabas darf gehen? Übrigens ein nicht der Bibel entnommener Textbaustein.

Die bereits erwähnte Motette Tenebrae factae sunt über Jesu Kreuztod offenbart, dass Poulenc auch traditioneller Textausdeutung nicht abgeneigt war. Die Dunkelheit rund um den Ölberg hat er in einem ausgreifenden Zittern von Alt- und Bassstimmen um einen Halteton eingefangen; und Jesu – wiederholter – Aufschrei ist schulmäßig in quälende Halbtöne gesetzt.

Einen Schritt zurück in der Geschichte, nämlich zum Gebet des Heilands im Garten Getsemane, führt uns Tristis est anima mea. Diese Motette spannt den Bogen von einem lyrischen Sopransolo über die tangoartig gesetzte Flucht der Treulosen, irrlichternde Sechzehntel, einen Aufschrei („ich werde für euch geopfert“), ein kurzes Idyll, die geraffte Erinnerung an das Fluchtmotiv bis zu einer ganz und gar erstaunlichen Wiederkehr: Jesu Ankündigung des eigenen Opfertods fasst Poulenc beim zweiten Mal in ein bis zu neunstimmiges wehmütiges wie wohlklingendes Lamento des Chors über dem gehaltenen Grundton. Die Furcht ist weg, Ostern kann kommen.

Eine Nummer kleiner, aber nicht weniger kunstvoll sind Poulenc die Quatre petites prières de Saint François d’Assise geraten, auch wenn ein Musikführer sie etwas schnöde unter „Katholische Chorgebrauchsmusik“ verbucht. Gern hatte der Komponist 1948 den Auftrag seines Großneffen, eines Franziskanermönchs, angenommen, für die Bruderschaft von Champfleury 4 Gebete des heiligen Franz zu vertonen, boten sie doch dem wiedererweckten Katholiken die Gelegenheit, einem seiner Lieblings-Heiligen zu huldigen. Und wie.

Gleich im ersten Stück mutiert eine von dudelsackartigen Klängen gestützte betont schlichte Marienhymne zu einem derart heiklen Klangkonstrukt, dass selbst die Dudelsack-Quinte ins Wackeln kommt; erst ganz am Schluss kehrt die göttliche Harmonie zurück. Es folgt in Nummer zwei die Nachahmung mönchischen Gesangs, der für jede Silbe einen Ton parat hat. Und abermals prägen verschrobene Modulationen dieses ständig leiser werdende Loblied.

Ungemein französisch kommt das melodieselige dritte Stück daher, das seinem Bezugssystem E-Dur überwiegend treu bleibt. Auf eine Abfolge vagabundierender Septakkorde, die an Jazz denken lassen, mochte Poulenc zum guten Schluss aber nicht verzichten. Im vierten Stück schließlich darf ein Solo-Tenor den Priester geben, dann wird es zunehmend komplex, bis die Hörer zur bestürzenden Feststellung „viele sind berufen, wenige auserwählt“ auch Musikalisch Unerhörtes umfängt.

So schwierig mochte es Maurice Duruflé Sängern und Publikum in den 1960 veröffentlichten Quatre Motets sur des thèmes grégoriens nicht machen. Die Verbindung zu Poulencs Werk liegt in der Orientierung an gregorianischen Gesängen, die Papst Pius X. 1903 für katholische Kirchenmusik angemahnt hatte. Duruflé, als Pariser Organist mit Liturgie bestens vertraut, hat sich konsequent daran gehalten und bekannte Gottesdienst-Melodien zitiert und paraphrasiert, sei es als Cantus-firmus-Fuge (Tantum ergo), als liebliche Deklamation (Ubi caritas) oder mit dem Charakter eines Frauenchors, der dem Hohelied-Hymnus Tota pulchra es Schwerelosigkeit verleiht. Einzig der rhythmisch etwas widerborstige Einwurf Tu es Petrus fällt ein wenig aus dem Rahmen, ist aber wie die anderen drei Stücke von modal eingefärbter Tonalität gekennzeichnet.

Der fühlte sich auch Frank Martin beim Komponieren seiner Messe für zwei vierstimmige Chöre verpflichtet. Doch Gebrauchsmusik sollte das gerade nicht sein. Vielmehr erklärte der Schweizer, dies sei „eine Sache zwischen Gott und mir, die niemanden etwas anging“. Erst 1963, vierzig Jahre nach der Entstehung, durfte die Öffentlichkeit daran teilhaben. Bis dahin entgangen war ihr ein Kyrie, das sich aus einer choralartigen Melodie im Alt – angetrieben von einem prägnanten „Christe“-Ruf – zu einem gewaltigen Höhepunkt steigert, dann aber schnell wieder zur Ruhe kommt. Das Agnus Dei entfaltet seine enorme Wirkung im Kontrast: Während der erste Chor überwiegend einstimmig eine weitschweifige Melodie singt, steuert sein Gegenpart fast ununterbrochen pochende Viertel als Grundierung bei – ein Anklang an den Impressionismus, doch zugleich ein Fingerzeig weit über die Entstehungszeit hinaus.

Christian Knatz©