Brahms-Requiem

Der Perspektivenwechsel ist mindestens so atemberaubend wie der Soundtrack des weit über eine Stunde beanspruchenden Werks. „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms ist gar keine Totenfeier, obwohl der Komponist die Totenmesse Missa pro defunctis, genauer: deren Anfangswort Requiem aufgegriffen hat. Die Höllenqualen, die in katholischen Versionen mit Inbrunst beschworen werden, fehlen; das Bitten für die Verstorbenen wäre aus Sicht des Protestanten Brahms vergebliche Liebesmüh. Und so bleibt einzig „gläubige Zuversicht, ja die Gewissheit der Überwindung des Todes“ (Ekkehart Kroher) übrig in einem Stück, das Siegfried Kross „eine von Ernst, Würde und Zuversicht getragene Musik für die Lebenden“ genannt hat.

Für diese hat Brahms in zwei Anläufen über mindestens acht Jahre Texte aus der Bibel zusammengestellt. So ähnlich haben es auch Heinrich Schütz für seine „Musikalischen Exequien“ und Johann Sebastian Bach für seine „Actus tragicus“-Kantate gehalten. An ihre Leistungen knüpft der Meister auch dadurch an, dass er barocke Kompositionstechniken und Rhetorik mit der Ausdrucksästhetik seines Jahrhunderts verknüpft. Dass Brahms dessen Kind war, zeigt auch das offen eingestandene Bemühen, die Exegese von Altem und Neuem Testament ohne Konsultation der Kirche zu übernehmen und sich der Indienstnahme der Musik durch die Liturgie zu verweigern. An einer Stelle eckte er damit an. In der Bremer Uraufführung kam der von Brahms bewusst ausgesparte Christus zu seinem Recht, indem Einsprengsel aus Matthäuspassion und Messias das deutsche Requiem ergänzten. Das Wesentliche blieb dabei unverstanden: Keine Predigt mit Dienstsiegel sollte das Stück sein, sondern Ausfluss einer höchstpersönlichen Sicht auf Tod und Leben. Malte Korff formuliert es so: „Anstelle der christlichen Dogmatik steht hier der subjektive Glaube des Einzelnen.“

Dass es dreier Uraufführungen bedurfte, bis dieser Anspruch klingende Wirklichkeit wurde, erscheint nachvollziehbar. Der Fassung mit den ersten vier Sätzen fügte Johannes Brahms auch mit Blick auf die ästhetische Unwucht eines zu kurz geratenen Finales die Sätze sechs und sieben hinzu. 1868 wurde das Requiem mit dem fünften Satz vollendet. Dieser steht zugleich dafür, wie eng Leben und Werk hier geführt wurden. Es ist keine Überinterpretation, den einzigen Sopran-Auftritt im Werk als Liebeserklärung an die 1865 gestorbene Mutter des Komponisten zu deuten. Er selbst schrieb an einen Kollegen über das Werk: „Ich habe nun meine Trauer niedergelegt, und sie ist mir genommen; ich habe meine Trauermusik vollendet als Seligpreisung der Leidtragenden.“

Freilich hatte die lange Reifezeit des Requiems auch mit einer Last zu tun, die ausgerechnet der Freund und Förderer Robert Schumann dem jungen Brahms auferlegt hatte. Die Prophezeihung, dieser werde „seinen Zauberstab“ einst dafür verwenden, großbesetzte Werke für die Ewigkeit zu schreiben, lähmte den reifenden Künstler zeitweise. Noch umging Brahms die Sinfonie, mit dem deutschen Requiem – der Name fasst die Abkehr vom Latein und einen Anspruch gegenüber den sogenannten Neudeutschen – gelang ihm aber tatsächlich der Durchbruch als Komponist von Weltgeltung. Seit bald 150 Jahren gehört das Werk zum Allerheiligsten der Musik, und neben der Einheit von Text und Ton trägt dazu die überragende Qualität der für den Konzertsaal geschriebenen Komposition bei. Sie teilt sich auch in der Fassung für Chor, Soli, Klavier und Pauken von Heinrich Poos mit, die auf einer eigenhändigen Version für Klavier zu vier Händen von Brahms fußt.

Ein kleines Wunder ist, dass Brahms über viele Jahre und einen Zuwachs an Teilen ein Werk aus einem Guss schuf, das nahezu perfekte Spiegelsymmetrie aufweist: Um den Ruhepol des vierten Satzes gruppieren sich zwei zarte Ecksätze mit direkten Entsprechungen, zwei gewaltige Visionen vom überwundenen Tod und zwei von Solisten (mit-)getragene, geradezu intime Gesänge über letzte Dinge.

Das F-Dur des ersten Satzes wirkt unter anderem deshalb etwas verschattet, weil Violinen beziehungsweise Diskant ausgespart werden. Eben dies macht die Instrumente zu ebenbürtigen Ansprechpartnern des Chores, mit dem es bald zu einem Wechselgesang kommt. Zur zweiten Seligpreisung aus der Bergpredigt gesellt sich ein Psalmtext, für dessen Freuden-Ernte Brahms ein fanfarenartiges Motiv durch die Singstimmen wandern lässt. Erst danach taucht das allererste Instrumentalthema nun auch im Chor („Sie gehen hin und weinen“) auf. Die Spanne des Gesamtwerks zwischen Leid und Freude, Trauer und Trost ist hier bereits durchmessen; das Harfen-Idyll am Ende lässt keine Zweifel, wer hier das letzte Wort hat.

Daran ändert auch der folgende Trauermarsch nichts, der den zweiten Satz eröffnet. Er umschließt nicht nur ein lyrisches Trio in Ges-Dur („So seid nun geduldig“), seiner Unerbittlichkeit wird auch ein zweiter Teil entgegengesetzt, der vor Siegesgewissheit im alles entscheidenden Kampf nur so strotzt. Zuvor aber singt der Chor einstimmig und mit wachsender Intensität von der Vergänglichkeit des Lebens. Musikalisch eingebettet ist die Botschaft aus dem ersten Petrusbrief in eine schleppende Passacaglia, deren zweites Motiv und deren Dreier-Metrum die Herkunft andeuten: Brahms hat das eindringliche Thema ausgerechnet dem Scherzo einer frühen Sonate für Klavier zu vier Händen entnommen.

Wichtiger als die angebliche Verwandtschaft des Chor-Themas mit dem Choral „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ ist die Metamorphose des Satzes. Aus b-Moll wird B-Dur, ein Signalruf kündet von der „Ewigkeit“, die über eine musikalische Ewigkeit ausgehalten wird. Das folgende Fugato stellt das Wort „Freude“ überdeutlich heraus, und im überschäumenden Trubel finden sich jede Menge weitere Wort-Ton-Entsprechungen. So ergreifen „Freude und Wonne“ die Singstimmen buchstäblich in rascher Folge, so wird zum „Schmerz“ nach bewährtem barockem Vorbild in Halbtönen geseufzt. Zwar beruhigt sich das Geschehen fürs Erste, doch der Fugato-Themenkopf wogt bis kurz vor Schluss in den Instrumenten nach.

Vom Aufbau ähnlich ist der dritte Satz, doch Textvorlage und erster Auftritt des Baritons wenden die fromme Betrachtung ins Persönliche. Wie eine Kirchengemeinde antwortet der Chor dem Solisten, der fast unmerklich ein für den weiteren Verlauf sehr bedeutsames Motiv beisteuert: Der Sechzehntel-Schnörkel ist als Geste des Aufbäumens gedeutet worden, die über Aufschrei und Zusammenbruch dieser anfangs vom Tremor geschüttelten Psalmvertonung trägt. Ein Zwischenabschnitt, in dem Moll und Dur miteinander zu ringen scheinen, führt zu einer dramatischen Wendung, die ohne Solist vonstatten geht. Verzweiflung türmt sich in Dreiklängen („Nun, Herr, wes soll ich mich trösten?“), staut sich in einem schillernden, DV genannten Akkord und entlädt sich im Spektakel: Auf ein girlandenverziertes Hoffnungslied folgt eine Fuge, die es in sich hat. War das musikalische Geschehen zuvor vom Ton A untermauert, weicht jetzt der Grundton D nicht mehr über 36 Takte des Liniengeflechts. Werner Oehlmann hat es erfasst: „Die Sicherheit des Glaubens könnte nicht deutlicher und eindringlicher versinnbildlicht werden.“

Natürlich ist der vierte Satz mehr als eine Symmetrieachse. Schließlich wird mit dem Freudenpsalm bereits das Paradies erreicht, dessen Wohllaut Brahms der Dramaturgie zuliebe zweimal unterbricht, gegen Ende etwa mit einer besonders altertümlichen Doppelfuge. Auf den Himmelswalzer folgen im fünften Satz die idyllische Vision von der Mutterliebe und damit ein Geniestreich: Nicht nur geben die Instrumente eine geraffte Version des Melodie des Solo-Soprans vor. Dessen Schlusswendung „Ich will euch wiedersehen“ entspricht – bei abermals längeren Notenwerten – exakt dem Chor-Thema „Ich will euch trösten“. Traurigkeit und Trost, Johannes und Jesaja sind verklammert zur Quintessenz des gesamten Werks . Als wenn das nicht genug wäre, findet die Transzendenz ihr musikalisches Abbild in einem Fade-out-Effekt der Solistin: Dreimal singt sie „wiedersehen“. Der Rest ist Schwelgen.

Instrumental wird der G-Dur-Akkord aufgenommen, aber schon im zweiten Takt des sechsten Satzes in d-Moll gewandelt, womit letztmals die Aura von trostlosem Herumirren erreicht wird. Barocke Bildlichkeit (zum Wort „suchen“ irrlichtern die Stimmen herum) trifft hier auf den romantischen Topos des Wanderers ohne Heimat. Wohin die Reise geht, ist ja längst klar, doch wie der Weg zum Heil beschritten wird, lässt den Hörer fromm werden.

Der Bariton sagt mit dem ersten Korintherbrief ein Geheimnis im Stil eines Rezitativs: nichts weniger als das Geheimnis des Glaubens, zu dem die Instrumente erzittern. Dann geht es Schlag auf Schlag: Die Tonart-Szenarien wechseln abrupt, aus dem Vierer- wird ein rascher Dreiertakt. Mit der Erwähnung der „letzten Posaune“ (hier bringt sie Verheißung, nicht Verderben) bricht scheinbar die Hölle, in Wahrheit aber der der Himmel los. Die Machart entspricht derjenigen der „Dies irae“-Sätze katholischer Totenmessen, deren unfrohe Botschaft an dieser Stelle aber umgedeutet wird: Hölle und Tod werden in ihrem Schrecken einzig beschworen, um desto ausgelassener den Sieg über beide feiern zu können. Einmal wird der Lauf des Lebens unterbrochen, am Ende jedoch regelrecht beschrien („Wo ist dein Sieg?“). So viel Endorphin mündet in eine nicht enden wollenden Fuge zur apokalyptischen Offenbarung des Johannes.

Damit ist alles gesagt, doch es fehlt die kompositorische wie inhaltliche Abrundung. Wie zu Beginn des Werks kleidet sanftes F-Dur im siebten Satz eine Seligpreisung, diesmal aus der Offenbarung. Als Zwischenspiel dient ein weiteres Idyll über behaglich plätschernder Begleitung. Ganz am Ende wird der einleitende Satz wörtlich zitiert, und Siegfried Kroos resümiert: „Die Seligpreisung der Leidtragenden und die der Toten werden in innigem musikalischem Ausdruck vereint und so der Kreis geschlossen, der Leben und Tod, Leid und Trost, Gericht und Erlösung umschließt.“ Eines kann nun wirklich nicht mehr überraschen: Das erste und das letzte Wort des deutschen Requiems lautet „selig“.

© Christian Knatz