Mozart-Messe

Auch Seitenpfade führen zur Unsterblichkeit. Man kann als zweiter Mensch den Mond betreten, man kann den „Ulysses“ von James Joyce übersetzen oder ein von Vollkommenheit zeugendes Mozart-Fragment vervollkommnen. Wolfgang Amadeus Mozart war bereits unsterblich, als er 1782/83 eine Messe in c-Moll anlegte, die er nie fertigstellen sollte. Damit hatte der Titan seiner Nachwelt, die sich mit halben Sachen nie recht zufrieden zeigte, eine Titanenaufgabe hinterlassen.

Der amerikanische Musikwissenschaftler und Pianist Robert D. Levin, der sich selbst „natürlich nicht ein Tausendstel von Mozarts Genie“ zuschreibt, hat fehlende Teile mit wissenschaftlicher Akribie und künstlerischem Feuereifer ergänzt; die Gesamtfassung der 80 Minuten beanspruchenden Mozart-Levin-Messe wurde im Januar 2005 in New York uraufgeführt. Die Fachwelt feierte einen von seltenem Erfolg gekrönten Kraftakt.

Warum die c-Moll-Messe ein Torso geblieben war – Mozart hatte Kyrie, Gloria, Sanctus und Benedictus im Wesentlichen auskomponiert sowie zwei Abschnitte des Credo entworfen – ist nicht restlos geklärt. Ihre Komposition fiel in die Zeit der Reformen Kaiser Josephs II., die just jene opernhaften Anklänge in der Kirchenmusik bekämpften, die Teile dieses Stücks prägen. Auch hatte sich Mozarts Hoffnung zerschlagen, in seiner Wahlheimat Wien den Auftrag für eine Festtagsmesse zu bekommen. Der Tod von Mozarts Erstgeborenem Raimund Leopold im Alter von zwei Monaten mag ebenso eine Rolle gespielt haben wie erste atmosphärische Störungen zwischen ihm und seiner Ehefrau Constanze, der er das Werk versprochen hatte.

Zumindest sind Messe und Privatleben kaum zu trennen: In einem Brief an seinen Vater vom 4. Januar 1783 berichtet Mozart von einem Gelübde im Zusammenhang mit seiner Heirat. Worauf es sich bezog, bleibt ungewiss, aber im gleichen Atemzug erwähnt der Tonschöpfer „die Hälfte einer Messe“, mit der er sich sehr zufrieden zeigte. Eine Reise gemeinsam mit Constanze zu Vater Leopold ermöglichte noch im gleichen Jahr die Aufführung des Unfertigen: In der Salzburger Benediktinerabtei St. Peter wurde die c-Moll-Messe, vielleicht ergänzt durch Sätze anderer Messen, am 26. Oktober aus der Taufe gehoben.

Besetzung (Solisten, großer Chor, Holz- und viele Blechbläser) und Ausdehnung sprengten schon im Fragment den Rahmen kirchlicher Gebrauchsmusik. Anders als im Falle seiner 15 vollendeten Messen aus Salzburger Zeit hatte Mozart keinen Auftraggeber und damit keine Vorschriften. Das entfesselte Genie schuf ein Werk, das dem gleichfalls nicht zu Ende komponierten Requiem ebenbürtig ist –  „turmhoch über allem, was er zuvor auf diesem Gebiet geschaffen hat“ (Kurt Pahlen).

David Doughty hat die c-Moll-Messe gar als „missing link“ zwischen Bachs h-Moll-Messe und Beethovens Missa solemnis identifiziert. Tatsächlich gehören Bach und Händel – beide wurden Mozart in Wien vom Kunstförderer Gottfried van Swieten nähergebracht – zu den Quellen, aus denen der Komponist für sein stilistisch heterogenes Werk über den lateinischen Messetext schöpfte.

Das Gloria hebt an wie ein Händel-Oratorium, der weitere Verlauf ist durchwebt von barockem Gestus und von Fugen, deren ausgedehnteste (Cum Sancto Spiritu) ein mittelalterlich anmutendes, sieben Takte langes Thema aufbietet. Besonders deutlich ist Mozarts Rückgriff auf ältere Techniken und Figuren im Qui tollis: Die chromatisch absteigende Linie im Orchester war seit jeher Sinnbild von Leid und Trauer, der gezackte Rhythmus ein Abbild der Geißelung Christi, der die Sünde der Welt auf sich genommen hatte. Und der Chor seufzt dazu in Halbtönen.

Reichlich unverwandt neben derlei Verbeugungen vor dem Alten stehen in dieser Messe Solopartien, die sich gar keine Mühe geben, ihre Verwandtschaft mit der Oper zu kaschieren. Das beginnt mit dem Sopransolo im nach Es-Dur aufgehellten Christe eleison und gipfelt in der Arie Et incarnatus est, die Mozart seiner gerade einmal 19 Jahre alten Frau auf den Leib geschrieben hatte: kunstvolle Koloraturen über wiegendem Takt einer Hirtenmusik der Holzbläser.

Der Mozart-Biograph Martin Geck hat das Nebeneinander von Stilen und Einflüssen in der c-Moll-Messe treffend als „einmalige Verbindung von Traditionsbewusstsein und Theaterhaltung“ charakterisiert. Jeder Teil ist für sich bedeutend, der Wille zur Größe ebenso unüberhörbar wie der oft düstere Tonfall. Mozart war es ernst mit dieser Musik.

Kein Wunder, dass es schon früh Bemühungen gab, das als fehlend Empfundene zu ergänzen. Frühe Versuche der Abrundung liefen in der Regel auf Stimmergänzungen von Bestehendem oder auf die Kombination mit anderen Werken hinaus; in diesem Jahr hat Ton Koopman eine Fassung der Messe vorgelegt, die Musik des Mozart-Freunds Michael Haydn heranzieht.

Robert Levin war ehrgeiziger – und selbstbewusster: „Niemand wüsste, wie eine gotische Kathedrale als Ganzes wirkt, wenn nicht das romantische Fieber für den Weiterbau des Kölner Doms gesorgt hätte“, merkt er zu seinem kongenialen Komponieren an. Und Levin, um im Bild zu bleiben, baute nicht drauflos, sondern suchte in detektivischer Kleinarbeit verstreute Bruchstücke zusammen, um neben den kleinen auch große Lücken zu schließen.

Zum einen glich er die c-Moll-Messe mit anderen Werken Mozarts ab, vor allem den Messen, und schloss daraus beispielsweise, dass das Credo in sieben Abschnitte unterteilt sein müsse. Zum anderen sichtete der Amerikaner alle Skizzen Mozarts aus den Jahren 1781 bis 1785. Neben anderem stieß er dabei in Unterlagen, die zu den Vorarbeiten für eine nie verwirklichte komische Oper sortiert worden waren, auf zwei Ecksteine seiner Fassung des Werks: ein Dona nobis pacem und den Beginn einer achtstimmigen Doppelfuge, der wie angegossen zu Tonartenplan und Crucifixus-Text passte. Levin machte daraus ein vier Minuten erklingendes komplexes Liniengeflecht, das er selbst „den größten Wurf meiner Fassung“ nennt.

Schließlich wertete er ein Werk aus, das aus dem Fragment der c-Moll-Messe entstanden war. 1785 hatte Mozart in aller Eile Kyrie und Gloria um zwei Arien ergänzt, um daraus eine lohnende Auftragsarbeit zu machen: die Kantate Davide peninente. Levin übertrug die langsame Einleitung einer der Arien auf den Anfang des Agnus Dei und verwendete den Hauptteil für das Tenorsolo Et in Spiritum Sanctum.

Mehr als einmal waren für Levins Arbeit aber auch Genieblitze vonnöten: Die das Credo bekrönende Fuge Et vitam venturi leitete der Forscher kühn aus einem Thema des Kyrie ab. Gerade mit solchen Verquickungen von Idee und mühevoller Ausarbeitung hat sich der Harvard-Professor Anteil an Mozarts Unsterblichkeit erworben. Und im Sinne des Meisters hat er die Messe durch alle Finsternis musikalisch zum ewigen Leben geführt. Mozart lässt das Werk in c-Moll beginnen, Levin setzt den Schlusspunkt in strahlendem C-Dur, der Tonart der Heilsgewissheit.

Christian Knatz©