Brahms

Passt das zusammen: der notorisch unglücklich verliebte Johannes Brahms und das Liebeslied? Ein als detailversessener Tüftler bekannter Komponist und federleichter Volkston? Wie gut das zusammenpasst, wurde 1869 offenbar. Da legte Brahms 18 Liebeslieder im Walzertakt vor, die in charmantem Tonfall große Kunst im Kleinen offenbaren und dabei die Liebe in ihren Schattierungen zum Klingen bringen: vom Verlangen über die Freude bis zum Zorn oder, wie es im letzten Stück heißt: „Liebe, Lust und Leide“.

Textgrundlage sind Nachdichtungen ungarischer, polnischer und russischer Gedichte durch den Nürnberger Gymnasiallehrer Georg Friedrich Daumer, den Brahms gelegentlich als „vertrocknetes Männchen“ bezeichnete. Anordnung und Tonarten der Miniaturen waren ihm nicht halb so wichtig wie deren Eingängigkeit. „Hoffentlich ist das ein Stück Hausmusik und wird rasch viel gesungen“, schrieb der Komponist seinem Verleger Fritz Simrock.

Die Hoffnung trog nicht. Wegen der großen Beliebtheit der „Liebeslieder-Walzer“ gab Brahms sieben Jahre später eine zweite Folge heraus. Womit aber ist der rauschende Erfolg der losen Sammlung zu erklären?

Fraglos hat die Verbindung von Volkston und künstlerischem Anspruch dazu beigetragen; die Melodien sind eingängig, die Möglichkeiten des Registerwechsels ausgeschöpft, die Struktur ist durchhörbar. Obwohl der ¾-Takt durchgehalten wird, stellt sich keine Eintönigkeit ein, auch weil die Stücke textbedingt individuelle Charaktere und Tempi haben; die Spannweite reicht vom gemächlichen Ländler (Nr. 1) bis zum Wutausbruch mit ungarischer Anmutung (Nr. 11).

Bei aller gewollten Schlichtheit zeugen kontrapunktische Elemente von der Vertrautheit mit den alten Meistern, weisen Nuancen und ausgefeilte Arbeit mit Motiven und Gesten auf Merkmale des Brahmsschen Kompositionsstils hin. Das erste Stück etwa hebt mit fast rührend einfachem Zwiegesang der Männerstimmen an; bald aber folgt das Thema in freier Umkehrung und mit stark verändertem Klavierpart.

Dem Werk zugrunde liegt die Form des variierten Strophenlieds. Dabei standen die Singstimmen ursprünglich gar nicht im Mittelpunkt. Brahms gab die Sammlung als „Liebeslieder. Walzer für das Pianoforte zu vier Händen“ heraus, was den eigenständigen Instrumentalsatz erklären mag. Erst später wurden die Singstimmen veröffentlicht. Womöglich lässt diese Rangfolge Rückschlüsse auf eine der Inspirationsquellen des Komponisten zu. Kurz vor der Ausarbeitung der Walzer hatte Brahms nämlich 20 Ländler von Franz Schubert herausgegeben. Seine Wahlheimat Wien („Walzermetropole“) und die Bekanntschaft mit Johann Strauss („Walzerkönig“) dürften gleichfalls nicht ohne Einfluss geblieben sein.

Vor allem aber legen die Liebeslieder-Walzer Zeugnis ab von Brahms’ beharrlicher Beschäftigung mit dem Lied. Namentlich das Volklied war für ihn nach eigener Aussage zeitlebens ein „Ideal“ – wenn man so will, eine seiner wenigen glücklichen und fruchtbaren Liebesbeziehungen. In diesem Muster an Einfachheit sah der Musiker nicht zuletzt ein Gegenmodell zum artifiziellen Blendwerk der Neudeutschen um Franz Liszt und Richard Wagner. Von diesen wurde Brahms’ Vorliebe für das Volkslied prompt als Beleg für dessen Rückwärtsgewandtheit angeführt.

Doch das ist zu kurz gedacht. Zwar war der Komponist auf einen bereits unter Volldampf fahrenden Zug aufgesprungen. Befeuert vom Patriotismus der Freiheitskriege und Vormärz-Bewegungen gab es in Deutschland schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen regelrechten Volkslied-Boom. Darin spiegelte sich die Sehnsucht nach schlichter Ursprünglichkeit und Einklang mit der Natur wider; die oft nur scheinbar vertraute Weise wurde zum Leitbild bürgerlicher Musikkultur.

Brahms indes nutzte das echte Volkslied, dessen schöpferische Neufassung oder auch freie Nachahmung „im Volkston“ für das Erproben bahnbrechender musikalischer Verfahren im überschaubaren Maßstab. Am Ende der Entwicklung stand eine Musik, die noch im unscheinbarsten Detail Bedeutungsträger ist. Der Komponist selbst begriff sein Bemühen um das veredelte Volkslied im Solo- wie im Chorlied dabei als harte Arbeit: „Glauben Sie, eins von meinen paar ordentlichen Liedern ist mir fix und fertig eingefallen? Da habe ich mich kurios geplagt.“

Doch es lohnte sich. Schon die zwischen 1859 und 1861 entstandenen Drei Gesänge für sechsstimmigen Chor belegen den Willen, die klanglichen und strukturellen Möglichkeiten des Strophenlieds auszuloten. Trotz raffinierter Harmonik kommt „Vineta“, die in wiegenden Rhythmus eingebettete Metapher von der im Meer versunkenen Stadt, dem Schlichtheits-Anspruch am nächsten. Seine Abwendung von Stilkopien nach Schütz und Bach hatte Brahms selbst so angedeutet: „Meine Sachen sind ja übermäßig unpraktisch geschrieben.“

Tatsächlich verraten das erste und das dritte Stück der drei Gesänge noch viel vom einst Erlernten und vom Hang zum Altertümlichen. Beide sind als Wechselgesang zwischen Stimmgruppen angelegt, beide sind von leeren Quintklängen und kirchentonartlichen Wendungen geprägt und weisen statt großen Melodiebögen eine Reihung von Figuren auf. Neben absichtsvoll inszenierter Monotonie gibt es auch simple Entsprechungen von Text und Musik zu entdecken: Bei Clemens Brentanos suggestivem „Abendständchen“ ist das Rauschen der kühlen Brunnen einer Dreier-Figur überantwortet. „Darthulas Grabesgesang“, die Fälschung einer Ossian-Dichtung durch James MacPherson, bemüht Seufzermotive, um der keltischen Totenklage Nachdruck zu verleihen.

Dies alles und dazu das kluge Spiel mit Motiven und Gesten ist zwar aller (musikalischen) Ehren wert. Liedhaft einfach ist es nicht. Und so verwundert es kaum, dass die 1872 veröffentlichten Sieben Lieder einen Rückzug auf kleinere, zumindest äußerlich anspruchslosere Formen markieren. Schlicht, aber nicht primitiv, überlegt in der Verknüpfung von Melodiestimme und Begleitung, aber nicht gekünstelt: So kommt beispielsweise „Rosmarin“, die Vertonung eines Texts aus der überragend wichtigen Volksliedsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ daher. Der einfachen Ausdeutung, die etwa in den dissonant umgesetzten „irren Qualen“ der „Waldesnacht“ ausgeprägt ist, tritt eine sublime, nicht auf Effekt bedachte Nachempfindung der Lyrik zur Seite.

Dies zeichnet auch die meisten der über 200 Lieder für begleitete Solosänger aus, die gleichermaßen dem Ideal Volkslied verpflichtet sind. Nur hin und wieder tritt – wie im „Vergeblichen Ständchen“ – das Klavier als nahezu autonome Kraft in den Vordergrund. Dorthin gehörte nämlich für Brahms das der Musik zugrunde liegende Wort, gerade, wenn es um Liebe ging. Denn die lag auch dem ewigen Junggesellen am Herzen.

Christian Knatz©