Magnificat

Chiaretta und Apollonia hatten ungemein bewegliche Stimmen. Also schrieb ihnen ihr Lehrer Soli voller Koloraturen auf den Leib. Ambrosinas Alt war reichlich tief – kein Problem, dann bekam sie eben ein tiefergelegtes Solo. Der Lehrer der Mädchen, kein Geringerer als Antonio Vivaldi, hatte seinen Meisterschülerinnen an der von ihm geleiteten Mädchenmusikschule Pietà in Venedig ihre Beiträge zu seinem Magnificat maßgeschneidert – zumindest in der heute Abend zu hörenden Version des nach 1717 vorgelegten Werks.

Für einen Musiker des 17. oder 18. Jahrhunderts bedeutete das Komponieren geistlicher Musik indes nicht einfach die auf den jeweiligen Künstler-Vorrat abgestimmte Vertonung frommer Texte. Es hieß, das Wort Gottes unter das Kirchenvolk zu bringen, und da boten sich denkbar verschiedene Ansätze. Wie verschieden, das zeigt gerade der Vergleich der Wort-Ton-Beziehung bei Stücken, die denselben Text zur Vorlage haben. Zum Beispiel das Magnificat, der im Lukasevangelium aufgezeichnete Lobgesang Marias vor der Geburt Jesu. Ähnlich den als Psalmen bezeichneten Bitt- und Preisgesängen des Alten Testaments, wird hier in kraftvollen Bildern Gottes Allmacht und die Geborgenheit des Menschen beschrieben.

Vivaldi stellt in seinem für die Abendmesse gedachten Magnificat der plastischen Sprache einen ebenbürtigen Notentext zur Seite, der im Wechsel von mächtigen Chorgesängen und lyrischen Solopassagen den Geist der Kantate atmet. Der erste und der letzte Abschnitt beginnen mit g-Moll-Akkordschlägen voller Wucht und einer kühnen Fortschreitung nach E-Dur. Auf die von Aufwärtssprüngen geprägte Fuge „Et misericordia eius“ folgen zwei Sätze die den Mut des gewieften Opern- und Konzert-Komponisten Vivaldi offenbaren, das Bibelwort plakativ auszudeuten. Den machtvollen Taten Gottes (Fecit potentiam) entsprechen ebenso machtvolle Durchgänge im Orchester zur nervösen Bass-Grundierung; der Chor setzt Akkorde wie in Stein gemeißelt dagegen. Noch greller wird der Sturz der Mächtigen vom Thron (Deposuit) ausgemalt: mit einem vorbeibrausenden Unisono zu Harmonien des Generalbasses.

Wie Vivaldis Werk endet auch das fast fünfzig Jahre früher entstandene Deutsche Magnificat von Heinrich Schütz mit einer so genannten Doxologie, der formelhaften Lobpreisung Gottes. Bevor sich darin die schiere Pracht Bahn bricht, nutzt der Komponist den in Italien abgeschauten Einsatz zweier Chöre zu etwas anderem. Im neuen Stil der Barockmusik sind die beiden Gesangsgruppen zum filigranen Wechselspiel zusammengefügt, zum „Gegeneinander im Miteinander“ (Hans Heinrich Eggebrecht).

Beide Teile des Werks beginnen geradtaktig-gravitätisch, um in einen schnellen Dreier-Takt zu münden. In diesem Rahmen interpretiert Schütz gewohnt souverän die Textvorlage. Der Vivaldi-Version ähnlich werden die „Hoffärtigen“, also Hochmütigen,  mit  geharnischten Akkordschlägen zerstreut. Wie lieblich ist dagegen die „Barmherzigkeit“ des Allmächtigen in Töne gesetzt! Typisch für den Komponisten wird das Wort buchstäblich gedeutet: Die „Niedrigen“ lassen die Tonhöhen sinken, während es aufwärts geht, sobald dem „Diener Israel“ aufgeholfen wird.

Ungleich geballter hat Schütz seinen schier unermesslichen Vorrat an derlei Figuren bei seiner Geistlichen Chormusik eingesetzt. Die 1648 veröffentlichte Sammlung von 29 fünf- bis siebenstimmigen Motetten markiert die Rückbesinnung auf den überkommenen Stil der Vokalpolyphonie – für Schütz zugleich ein Lehrbuch, das nach seinen Worten helfen soll, die „harte Nuss aufzubeißen“, die dieser Kompositionsstil bedeutete.

Doch geht der Meister weit über das komplexe Liniengeflecht vergangener Jahrhunderte hinaus, wie auch die beiden adventlichen, die Ankunft des Herrn ankündigenden Stücke dieses Abends zeigen. Ich bin eine rufende Stimme gießt den Anfang der Predigt Johannes des Täufers aus dem Johannes-Evangelium in ein charakteristisches Thema, welches in der Zeile „Ich taufe mit Wasser“ erneut durchschimmert. Dabei meint man, das in Achtelketten perlende Wasser herabplätschern zu hören. Das alles kommt derart ungezwungen daher, auch die an eine festliche Prozession gemahnende Kurz-Fuge „Richtet den Weg“, dass von der mathematischen Tüftelarbeit, die hinter diesem Kunstwerk steht, nahezu nichts zu merken ist.

Auch nicht im Tröstet, tröstet mein Volk, der Verheißung Gottes, Juda aus dem babylonischen Exil heimzuführen. Schon die zu Beginn stehende Wortwiederholung nutzt Schütz, um die Eindringlichkeit der vertonten Bibelstelle zu steigern. In dieser Wüstenpredigt folgen ein von froher Erwartung zeugendes „Bereitet dem Herren den Weg“ und abermals eine Fülle engster Entsprechungen von Text und Musik: So ist die „ebene Bahn“ durch ein Unisono auf einer Note gekennzeichnet. Und was laut Jesaja „höckerig ist“, bekommt der Zuhörer ohne weiteres mit, singt doch der Chor hier höckerartig gewellte Linien.

Als eine Art älteres Schwesterwerk der Geistlichen Chormusik gilt die 1623 abgeschlossene Sammlung Israelsbrünnlein von Johann Hermann Schein. Wie Schütz und Samuel Scheidt, der Dritte im Bunde der miteinander befreundeten mitteldeutschen Frühbarock-Genies, kombinierte Schein das Erbe deutscher Vokalpolyphonie mit italienischen Einflüssen. Das „Israelsbrünnlein“ ist Zeugnis seiner Beschäftigung mit dem als Madrigal bezeichneten, aus Italien stammenden und meist fünfstimmigen weltlichen Lied, nach den Worten des Schein-Herausgebers Adam Adrio gar „das künstlerisch bedeutsamste Ergebnis der Übernahme des italienischen Madrigalstils“; folgerichtig nannte der Komponist die 26 Stücke seiner Sammlung „Geistliche Madrigale“.

Der Text von Ich bin die Wurzel des Geschlechtes David ist der Offenbarung des Johannes entnommen, dem von rätselhaften Symbolen und Allegorien nur so wimmelnden einzigen prophetischen Text des Neuen Testaments. Scheins Musik indes kommt nicht als Rätsel, wohl aber als Kompendium ausgefeilter Techniken daher. Zwischen etlichen Imitationen der Stimmen, die zuweilen die Anmutung einer Doppelchörigkeit schaffen, finden sich Akkordfolgen, die den Text unterstreichen. Wie ein komponierter Doppelpunkt wirkt die Aussage „Es spricht, der solches zeuget“, bevor die Essenz der Bibelstelle in gleicher Weise, aber noch eindrucksvoller exponiert wird: „Die Gnade unseres Herren Jesu Christi“.

Schein war Thomaskantor in Leipzig, rund hundert Jahre bevor Johann Sebastian Bach ihm in dem prestigeträchtigen Amt nachfolgte. Bachs heiteres Cembalo-Konzert A-Dur, die Bearbeitung eines verschollenen Originals, ist auf seine Weise so bahnbrechend gewesen wie die Chormusik des heutigen Konzerts: In der Vernetzung von Fugenkunst und italienischem Konzertieren schaffte der Meister eine neue Ausdrucksform für Instrumentalisten und hob, ganz nebenbei, die Gattung Klavierkonzert aus der Taufe.

Christian Knatz©