Romantik

Johannes Brahms und Hugo Wolf als Seelenverwandte zu bezeichnen, ginge entschieden zu weit. Tatsächlich hat sich der glühende Wagner-Verehrer Wolf als Musikkritiker geradezu in Rage geschrieben über den längst arrivierten Kollegen und dessen Vorstellung von absoluter Musik. Und doch werden beide der Romantik zugerechnet, deren musikalischer Zweig etwa die Jahre 1820 bis 1910 umfasst. Gemeinsam ist ihnen immerhin ihr substanzieller Beitrag zu Kompositionen für Singstimmen, die dem romantischen Ideal der Ursprünglichkeit in besonderem Maße entsprach.

Damit sind die Gemeinsamkeiten der bei diesem Konzert vorgestellten Chorwerke auch schon weitgehend aufgebraucht. Der später als Liedkomponist geltende Wolf hat für seine 1881 geschriebenen Sechs geistlichen Lieder Texte Joseph von Eichendorffs gewählt, in denen – erzromantisch – Stimmungen und Erfahrungen geschildert werden, die in der Zeit der Aufklärung tabuisiert waren; Nacht und Natur dienen als Trost und Gegenbild zur täglichen Mühsal und zur Kälte der vernunftgelenkten Welt. Die Abfolge der vom Komponisten mit eigenen Titeln versehenen Stücke folgt einer inneren Logik: Das anfangs aufbegehrende Ich überwindet über das Gebet die Niedergeschlagenheit und findet den Seelenfrieden. Es scheint naheliegend, in diesem Programm der Befindlichkeit autobiographische Züge zu vermuten; schließlich hatte Wolf, dem die Anerkennung als Tonschöpfer bis dato versagt geblieben war, gerade eine zerbrochene Liebesbeziehung zu verarbeiten.

Die sechs Lieder gestaltete er äußerlich schlicht als „harmonisierte Choräle“ (Hans Jancik). Auch wegen ihrer geradezu labyrinthischen Chromatik galten sie lange als unaufführbar. Doch auch Spuren althergebrachter musikalischer Sprache sind auszumachen. Wenn gleich im ersten Stück ein jähes Piano das Bekenntnis „Wie schwank ich sündlich“ markiert, bringen Triolenfiguren tatsächlich das Metrum zum Schwanken. Bedient sich Wolf gelegentlich der Kontrapunktik, schafft also ein Geflecht der Melodielinien, dann ist das durchweg vom Text motiviert.

Ganz anders Brahms. Der von Robert Schumann an die alten Meister der Polyphonie herangeführte Traditionalist machte kontrapunktische Techniken zu einem integralen Bestandteil seiner Kompositionskunst. Als Experimentierfeld diente ihm die Motette, eine Mitte des 19. Jahrhunderts nicht gerade als modern geltende vokale Großform. Die Werke des heutigen Abends zeigen auf, wie Brahms sich seine Meisterschaft im polyphonen Satz erarbeitete.

Sein 1856 geschriebenes Geistliches Lied ist gar im Rahmen eines Austauschs kontrapunktischer Übungen mit dem befreundeten Geiger Joseph Joachim entstanden. Gleichzeitig sollte das Stück wahrscheinlich seiner Freundin Clara Schumann  Anteilnahme über den absehbaren Tod ihres berühmten Mannes übermitteln. Auf den Gestus des Tröstens scheint die gelehrsame Anwendung der frisch erlernten Technik abgestellt. Nach einem Orgelvorspiel setzen Sopran und Tenor auf der einen, Alt und Bass auf der anderen Seite mit jeweils eigenen Themen im Abstand einer None ein. Es entsteht der Eindruck, wie ein Musikforscher beschrieben hat, als würde jemand reihum von seinen Freunden getröstet. Mit Erfolg: Nach einer himmelwärts strebenden Linie endet die Coda in friedvollem Es-Dur.

Einen klaren Schritt nach vorn dokumentiert die 1864 veröffentlichte Motette Schaffe in mir Gott ein rein Herz. Auch hier tut sich eine Fundgrube für Analytiker auf, doch die komplizierte Faktur kommt für den Hörer im Ganzen ungezwungener daher. So erweist sich der Anfang als geniale Verquickung von Klangballungen und polyphoner Setzweise. Fast unmerklich stellen Sopran und Bass II einen Kanon vor, der Bass in doppelt so langen Notenwerten; Tenor, Alt und Bass I imitieren abschnittweise die Sopranstimme. Eine strenge Fuge („Verwirf mich nicht“) leuchtet mit verquälten Ton-Alterationen den Kontrast der Textabschnitte aus.

Die Motette Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen schließlich ist nicht weniger als ein Gipfelpunkt der geistlichen Vokalmusik des 19. Jahrhunderts. Wie bei Wolf ist der Begriff geistlich indes mit Vorsicht zu gebrauchen. Ging es letzterem darum, ein Kompendium religiös überhöhter Gemütszustände zu schaffen, so nahm sich Brahms das Recht, fromme Texte rund um die Bibel romantisch-subjektiv auszuwählen und auszudeuten. An die Auferstehung glaubte der regelmäßige Bibelleser nach eigener Aussage deswegen noch lange nicht. Brahms selbst nannte die 1879 entstandene Motette „eine kleine Abhandlung über das große Warum“, also über die Sinnfrage. Musikalisch durchwebt und gliedert die Frage des Hiob als schlichte Kadenz den ersten Teil des wie üblich kontrapunktisch durchgearbeiteten Werks. Anklänge an Barockmusik finden sich auch im Kleinen: Das Wort „betrübt“ etwa ist als Melisma mit lamentierendem Charakter gefasst – zur Zeit Bachs eine gängige Entsprechung von Wort und Ton. Wer es dann noch nicht gemerkt hat, dass hier die Kunst alter Meister in neuem Gewand wiederkehrt, dem hilft Brahms mit einer Art romantisch getuntem Bach-Choral zum Abschluss des Stücks nach. Sogar dem Widmungsträger Philipp Spitta, immerhin Bach-Biograph, war das zu viel.

Brahms zu Beginn des Konzerts gespielte Präludium und Fuge a-Moll zeugt schon im Titel von der auch hier konsequent betriebenen Anlehnung an barocke Vorbilder. Und damit stand er nicht allein: Felix Mendelssohn-Bartholdy und Max Reger haben sich gleichfalls namentlich von Bach inspirieren lassen. Mendelssohn-Bartholdy, der als Wiederentdecker von Bachs Werk gilt, ist mit einer auf einen „Vater-unser“-Choral geschriebenen variationsartigen Sonate vertreten, Reger – nach eigenem Bekunden „katholisch bis in die Fingerspitzen“ – mit einem Präludium aus den Zwölf Orgelstücken. Frappierende Ähnlichkeit kann ihren Stücken nicht nachgesagt werden. Und doch gehören beide zu den Meistern der musikalischen Romantik.

 

Christian Knatz©