“Ich bin der Welt abhanden gekommen”

Man kann es auch übertreiben mit den Parallelen zwischen Leben und Werk: Als Max Reger am 11. Mai 1916 tot in seinem Bett gefunden wurde, lagen auf dem Tisch nebenan die Korrekturfahnen von „Der Mensch lebt und besteht nur eine kleine Zeit“, dem ersten von Regers acht geistlichen Gesängen, die zu allem Überfluss einem seiner Ärzte gewidmet sind.

Keine Bange, tödliche Langeweile droht nicht bei der anregenden Auseinandersetzung von Komponisten mit Tod und Vergänglichkeit, deren Erträge das heutige Programm versammelt. Regers Alterswerk gewinnt, wie Wolfgang Marggraf anmerkt, „bemerkenswerte Leuchtkraft, obgleich es, vom Schluss abgesehen, durchaus in zarten Klangbereichen verbleibt“. Die Wirkung des durch Glaubensgewissheit aufgehellten Stücks vergrößerte Reger durch schnörkellosen akkordischen Satz, der mit kirchentonartlichen Wendungen Jahrhunderte zurückweist.

So halten es auch etliche Orgelwerke Regers, in denen – oft kunstvoll miteinander verbunden – beides zu finden ist: die Technik barocker Meister und eine spätromantische Harmonik am Rande der Deutbarkeit.

Beides hat im Grundsatz Gustav Mahler ebenfalls zu bieten, dessen Orchesterlied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ der hochartifiziellen Machart zum Trotz ungebrochen beliebt ist. Dazu hat die vom deutschen Musikwissenschaftler Clytus Gottwald verfasste Bearbeitung für sechzehnstimmigen Chor beigetragen, die alle Vorzüge des Originals außer vielleicht dem prägenden Englischhorn vereint.

Hier wie da gilt es, das Werden eines alles bestimmenden Themas zu bestaunen, dessen Charakteristik Matthias Hansen mit existenziellem menschlichen Tun verglichen hat: einatmen, innehalten, ausatmen. Schließlich steht ein Lebendiger im Mittelpunkt, der nicht einmal räumlich, nur geistig vom Weltgetümmel entfernt sein muss. In Mahler brachte Friedrich Rückerts Vision der Entrücktheit eine Saite derart zum Klingen, dass er gelegentlich zu seinem Stück erklärte: „Das bin ich selbst.“ Dabei hatte der Shootingstar der Klassikszene zur Zeit der Komposition 1901 gar keinen Grund, der Welt abhanden zu kommen. Die Leidensjahre des Mannes, dessen fünfte Sinfonie im Adagietto Idee und heiligen Ernst des Liedes aufgreift, lagen mit Kindstod, untreuer Ehefrau und Krankheit noch vor ihm. Eher als persönliches Erleben dürfte Mahlers Bedürfnis nach spiritueller Erfüllung die Feder geführt haben, das von Amtskirchen nicht zu stillen war.

In diesem Sinne war er Seelenverwandter von Johannes Brahms, dessen individuelle Religiosität auch Werke prägte, die als weltlich kategorisiert werden. Zum Beispiel die Fünf Gesänge für gemischten Chor, für deren erste zwei ebenfalls Rückert zum Textdichter bestimmt wurde. Herber ist der Herbst als Allegorie auf menschliches Vergehen nie in Töne gesetzt worden. Ausgerechnet Max Kalbeck, dessen Gedicht „Letztes Glück“ dem dritten Gesang zugrunde liegt, vermisste als Kritiker „die Natürlichkeit der Empfindung, die Frische des Tons und die Einfachheit des Chorsatzes“. Die Punkte zwei und drei mögen durchgehen, wofür Brahms gute Gründe anführen konnte, Punkt eins aber geht schlicht daneben. Über alle künstlerischen Kniffe hinweg vermittelt die 1889 gebündelte Sammlung ein plastisches, ein erschütterndes Bild der Kreatur, die sich mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzt, aber nicht bei der Trauer stehenbleibt.

Die erste „Nachtwache“ gibt den melancholischen Ton in zunehmend verdichteter Zwiesprache zwischen Männer- und Frauenchor vor, die zweite gewährt schon mal ein wenig Trost auf engstem Raum, der durch den Hornruf eines Wächters („Ruhn sie?“) beschallt wird. Dagegen ist das kurze Dur-Aufflackern auf das Wort vom „Sonnenblick“ in „Letztes Glück“ trügerisch, so wie die Wildheit des in vier Mini-Teile gegliederten vierten Stücks offenkundig Ausfluss abgrundtiefer Trauer über die „Verlorene Jugend“ ist. „Im Herbst“ endlich, harmonisch so kompliziert wie das Leben und Sterben, findet der Mensch über den Anblick der sinkenden Sonne doch noch die Seligkeit in C-Dur. Mit dieser frommen Wendung ist „der Schlussstein zu Brahms‘ reichem Chorliedschaffen“ gesetzt, wie Werner Oehlmann schreibt, „der Gipfel an Reife, Inspiration und Könnerschaft“ erreicht.

Noch auf dem Weg dorthin war Brahms, als er zwischen 1859 und 1861 die drei Gesänge für sechsstimmigen Chor komponierte. „Darthulas Grabesgesang“, das dritte Stück, verrät vor allem einen Hang zum Altertümlichen, der beim Wechselgesang der Stimmgruppen unter anderem in leeren Quintklängen ausgelebt wird. Dabei war der vorgeblich vom blinden Poeten Ossian stammende Text nur die Fälschung eines gewissen James MacPherson. Befruchtend war er dennoch für Brahms, der mit Seufzermotiven der keltischen Totenklage Ausdruck verlieh; die Aufheiterung zwischendurch erstirbt so rasch wie die Rufe „Wach auf!“. Als Prunkstück für Kammerchöre ist „Darthulas Grabesgesang“ freilich wesentlich populärer als Brahms Orgelwerke. Mit dem Urteil, diese „stehen stilistisch außerhalb seiner symphonischen Sprache und sind barocken Vorbildern verpflichtet“, tut Reclams Musikführer sie allesamt ab. Doch die bis ins Letzte durchdachte Faktur teilen sie mit dem Gesamtwerk, wie auch die heute zu hörende Auswahl aus einer Sammlung von elf Choralvorspielen zeigt. „O Welt, ich muss dich lassen“ etwa überrascht mit einem doppelten Echo-Effekt.

Die Nähe zu Bach und Konsorten stritt Felix Mendelssohn nie ab. Für den schöpferischen Umgang mit der Tradition steht indes die Choralmotette „Mitten wir im Leben sind“. Sie gehört als Luther-Vertonung zum evangelischen Teil einer konfessionsübergreifenden Kompilation, die der Meister 1830 angelegt hatte. Obwohl es abermals archaisch und auch noch protestantisch streng zugeht, fand Mendelssohn in einem Brief an seine Familie launige Worte zur Beschreibung: „Und nun kommen alle Frauenstimmen piano ,das bist Du, Herr, alleine‘. Dann gibt es bösen Lärm und am Ende ,Kyrie eleison‘. Das Ding macht auch ein Cantorgesicht.“ Besser kann man es nicht sagen.

Auch in Mendelssohns erster Orgelsonate bildet ein Choral („Was mein Gott will, das gescheh allzeit“) den Kern der Komposition, und der Schöpfer setzte seine Zeilen deutlich vom Rest ab.

Kontrapunktische Kunstfertigkeit ist hier zu finden wie auch im Requiem von Peter Cornelius, der ansonsten wenig mit Mendelssohn gemein hatte. Als Herold der sogenannten Neudeutschen um Franz Liszt war der Mainzer zeitlebens unterwegs, unter anderem mit seiner musikalischen Totenfeier brachte er Bemerkenswertes hin: Klangliche Üppigkeit mit geradezu exzessiver Chromatik und eine an die Grenzen gehende Expressivität beanspruchen nicht mehr als acht Minuten Zeit. Die Textzeile „Seele, vergiss sie nicht“ dient als wiederkehrendes Motto eines Stücks, das zum Schluss nach viel Kampfgetümmel den Seelenfrieden bringt. Wer es je gehört hat, wird einem Kommentator namens Georg Grün kaum widersprechen: „Das Requiem von Cornelius gehört zum Besten, was an Chormusik komponiert wurde.“

Christian Knatz©