Mendelssohn

Richard Wagners Schrift über „Das Judentum in der Musik“ zielte nicht zuletzt auf Felix Mendelssohn. Jüdische Komponisten seines Schlags – Mendelssohn war seit Kindertagen Protestant – hindere die Unbehaustheit ihres Volks daran, wahrhaft schöpferisch zu sein. Bei allem Talent sei von ihnen mithin nicht mehr zu erwarten als Imitate und nachrangige Anlehnungen an Bestehendes.

Nun herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass dieser gleich zweimal publizierte Aufsatz so ziemlich das Dümmste war, das diesem klugen Kopf je entsprang. Und doch hat er die Mendelssohn-Rezeption nicht nur bis 1945 zumindest mitgeprägt. Aus dem „Mozart des 19. Jahrhunderts“, den Schumann in seinem Freund Mendelssohn erblickte, war in der Verzerrung ein Nachahmer geworden, ein matt schimmerndes Lichtlein, das sich im Glanz der Großen sonnte.

Mendelssohn selbst scheint dieser unfreundlichen Lesart auf zweierlei Art Vorschub zu leisten. In Selbstzeugnissen, zum Ersten, machte der Komponist nie ein Hehl daraus, musikalische Vorbilder zu haben und ihnen nachzueifern. „Hat es Ähnlichkeit mit Sebastian Bach“, teilte er einem Freund über gerade geschriebene Chorwerke mit, „so kann ich wieder nichts dafür, denn ich habe es geschrieben, wie es mir zu Mute war, und wenn mir einmal bei den Worten so zu Mute geworden ist wie dem alten Bach, so soll es mir um so lieber sein. Denn du wirst nicht meinen, dass ich seine Formen kopiere ohne Inhalt, da könnte ich vor Widerwillen und Leerheit kein Stück zu Ende schreiben.“

So hielt es Mendelssohn, zum Zweiten, tatsächlich bei seinen Werken. Neben seinen sechs an Choräle angelehnten Orgelsonaten weist besonders die geistliche Musik in aller Regel frappierende Ähnlichkeit mit den großen Meistern von einst auf, was die Machart betrifft. Mendelssohns zitierte Erklärung über Form und Inhalt dient dabei als Schlüssel zum Verständnis seiner traditionsgebundenen Originalität. Wann immer es ging, widmete sich der vielbeschäftigte Musiker der Sammlung und Sichtung alter Musik: Werke von Palestrina, Lasso, Schütz, Bach und Händel dienten ihm gleichermaßen als Objekte der Verehrung und des Studiums. Arndt Richter nennt Mendelssohn daher völlig zu Recht den „ersten Komponisten, der sich in seinem Schaffen dem Druck des Erbes zweier Jahrhunderte zu stellen hatte“.

Da traf es sich, dass ihn in seinen späteren Lebensjahren ein Arbeitgeber in diesem historischen Bewusstsein stärkte, aus der großen Geschichte eine Verpflichtung abzuleiten. Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen, hatte Mendelssohn 1842 zum Berliner Generalmusikdirektor ernannt – nicht zuletzt mit dem Ziel, die preußische Kirchenmusik zu reformieren. Der Monarch wollte nach eigenem Bekunden „guten, echten Chorgesang hören, das heißt gregorianischen, mit Kompositionen im Kirchenstil, alten und neuen“, wie Dorothea Bossert notiert hat.

Mendelssohn war kein Lakai, auch wenn er wider die eigene Überzeugung die drei Psalmvertonungen von Opus 78 ohne Orchesterbegleitung anlegte, wie es der König liebte. Beispielhaft zeigen diese Stücke, wie aus Anleihen bei alten Meistern etwas Neues wurde, das nur mit Wagnerscher Boshaftigkeit als Stilkopie herabgewürdigt werden kann.

Das beeindruckende Schlussstück Mein Gott, warum hast du mich verlassen kombiniert über weite Strecken ein Tenor-Rezitativ mit Chorpassagen. Weder ist dieses in romantischer Manier dramatisiert, noch weisen jene unmittelbare Wortauslegungen in Tönen nach barocker Art auf. Und doch vereinigt das für Mendelssohns Berliner Domchor geschriebene Stück barocke und romantische Errungenschaften. Bald steht dem Chor ein Solistenquartett im Wechselgesang gegenüber, der nach jähem Auf- und Wiederabbau der Spannung den Klangteppich für eine kleine Sensation legt: Über den typisch eng gesetzten Begleitstimmen gibt der Solo-Sopran die wie ein Juwel eingefasste Aufhellung nach E-Dur vor zu den Worten „Aber du, Herr, sei nicht ferne“. Es folgen zahlreiche fanfarenartige Ausrufe, nach denen es kein Halten mehr gibt im Hymnus. Noch einmal werden Rezitative eingeschoben, doch die große Sext markiert den Sieg der Glaubensgewissheit. Das Stück endet „im sonnigen Glanz eines warm ausdrucksvollen E-Dur“, hat Julian Heylock bemerkt.

Barocke Faktur, klassisches Ebenmaß und romantische Klanglichkeit vereint auch das erste und bekannteste Stück der Dreiergruppe von Opus 78: Warum toben die Heiden? Mit dem 22. Psalm teilt die Vertonung des 2. unter anderem die Gliederung in Abschnitte und die häufige Mutation der musikalischen Szenerie. Scharfkantige Punktierungen und chorischer Wechselgesang prägen den deklamatorischen Einstieg, von dessen tönendem Schrecken der Weg zu einer lieblichen Solopassage und einem prächtigen Siegeslied führt. Wieder wechselt die Anmutung: Nun überbieten die Chöre einander in Tiraden über die Zerschlagung der eben noch hochmütigen Heiden. Über eine einstimmige Predigt gelangt die Psalmmotette zu ihrem Höhepunkt. Mendelssohn verbindet dazu einen heiteren Gesang mit dem Grummeln der Begleitstimmen in Halbtönen, die an den bedrohlichen Anfang erinnern. Kurz nachdem sich der Gegensatz in Wohlgefallen aufgelöst hat, folgt mit einer Fuge die letzte Überraschung auf engem Raum. Nach etwas steifbeinigem Beginn gewinnt sie an Profil, unter anderem durch die hervorgehobene Häufung dreier Ganztonschritte in Folge.

Wer in alldem einen Nachklang zu Händels theatralisch gedachter geistlicher Musik hört, wird sich durch die Ende 1846 komponierte doppelchörige Motette Ehre sei Gott in der Höhe bestätigt fühlen. Starke Kontraste bei Tempo und Lautstärke, Antwortgesang neben dem vollen Register und eine Gliederung, die bei allen Gegensätzen den steten Fluss gewährleistet, fassen in diesem Fall einen Text in Töne, der kaum Ansatzpunkte für derlei Vielgestaltigkeit bietet. Ein knappes Motto erweitert sich zum feierlichen Vorspruch, an den sich ein von euphorischen Sprüngen und bewährten Techniken durchsetztes Allegro anschließt. Bald setzen die Stimmen zu Fugato-Einsätzen an, bald treiben die Chöre einander taktweise an.

Über die Doppeldominante E-Dur wird ein ruhiger Abschnitt erreicht, der mit seinem Vorgänger das charakteristische Intervall der Oktave teilt. Was dann in erhöhter Geschwindigkeit folgt, ähnelt auffällig dem Gesang von den tobenden Heiden. Nach kurzer Block-Konfrontation werden ein auf- und ein absteigendes Motiv in kunstvollem Kontrapunkt verarbeitet. Dann endet das Stück, das mit dreifacher „Ehre“ begann, mit dreifachem „Amen“.

Trotz seiner Qualität ist es nicht annähernd so bekannt geworden wie die Hymne Hör mein Bitten für Sopransolo und Chor. Geschrieben hat es Mendelssohn auf Psalm 55 im Jahr 1844 in England, gewidmet hat er es ausgerechnet einem Berliner Konkurrenten: dem Hofkapellmeister Wilhelm Taubert, der eifersüchtig darüber wachte, wer von beiden wie viele Konzerte dirigierte.

Dass es hier, dem eher traurigen Text zum Trotz, grundlegend idyllisch zugeht, macht die Solostimme im ersten Abschnitt klar, mit dessen Motto der Chor zu einem harschen Dialog überleitet; das Böse scheint in Moll und raschem 3/8-Takt die Oberhand zu behalten. Doch leiten ein Sopran-Aufschrei, eine matte Geste des Chors und ein in der Dominanttonart schließendes Rezitativ über zu einem Happy End, das Entsprechungen zum eröffnenden Teil aufweist.

Das Jubilieren der Solostimme wird abgelöst von einem Chor-Hymnus, in dem die fugierte Bewegung bald regelrecht aufgesogen wird, bevor sich alle miteinander in der vielfältigen Schilderung einer Weltflucht ergehen – „eine mit Recht vielbewunderte lyrisch-stimmungsvolle Schlussentwicklung“, wie Reclams Musikführer lobt.

Ein eher schlichter Verwandter ist das erste Geistliche Lied von dreien des Opus 96, das ebenfalls in Fassungen mit Orgel oder Orchester vorliegt und ebenfalls eine Solostimme beschäftigt. Ihr gehört das vom Chor übernommene Thema zunächst, das alles enthält, was der Komponist für 95 Takte Musik braucht. Im Ganzen wirkt das Stück ein wenig kragensteif, im Detail ist Reizvolles zu entdecken. Dazu gehört die einfallsreiche Verarbeitung der zwei bestimmenden Motive – punktierte Viertel plus Achtel beziehungsweise Achtelketten -, während die Chorfuge zum Thema von gediegenem Handwerk zeugt. Etwas mehr als der finale Wechselgesang zwischen Chor und Solistin lassen die vier Schlusstakte aufhorchen, die auf kürzester Strecke harmonische Finesse bieten.

Genaues Hinhören belohnt auch Mendelssohns Abendsegen für vierstimmigen Chor, der das Wort „gnädig“ in einen seit jeher gängigen musikalischen Seufzer einkleidet. Dass es für Eindringlichkeit nur einen einzigen umgeschichteten Moll-Akkord braucht, beweist der Anfang; dass auch eine fürs Erste öde wirkende Fuge zu großer Form auflaufen kann, unterstreicht zum Beispiel ein Zwiegesang von Sopran und Tenor auf halber Distanz. Mit dem neuen Text „und schreib in unser Herz“ wird die Bewegung in Akkorde gebannt. Ein Mini-Fugato führt zu einem Höhepunkt, bevor das Stück nach wenig mehr als 40 Takten in sich zusammensinkt.

Platz-Probleme für Kirchenmusiker hatte der Komponist schon 1835 in einem Brief zum Thema gemacht: „Eine wirkliche Kirchenmusik, das heißt für den evangelischen Gottesdienst, die während der kirchlichen Feier ihren Platz fände, scheint mir unmöglich“ heißt es in dieser Klageschrift über die auf Straffheit bedachte preußische Liturgieordnung. Mit Mess-Kompositionen brauchte Mendelssohn da gar nicht erst zu kommen, einzelne Teile des sogenannten Ordinariums hat er aber doch vertont. Ein echtes Kleinod ist das Kyrie in A-Dur für Doppelchor, das noch im gerafftesten Gottesdienst Platz findet. 19 Takte lang sind die Stimmen ungemein kunstvoll verwoben, aber eben nicht verkordelt, so dass die strömende Melodik des wellenförmigen Themas an keiner Stelle zu kurz kommt. Wer mag, kann auch hier allerhand Anleihen bei der Alten Musik entdecken. Doch gerade in seiner unprätentiösen Art ist dieses Stückchen Musik geeignet, Verständnis zu wecken für Mendelssohns schöpferisches Verständnis von Tradition. Nie behauptete er, das Rad neu erfunden zu haben, und doch war er einer der ganz großen Entdecker.

Christian Knatz©